Den Totgeschwiegenen eine Stimme geben
Während wir weltweit ein stärkeres Bewusstsein für geschlechtsspezifische Ungleichgewichte und frauenspezifische Themen entwickeln, stellt sich die Film-Community hartnäckig die Frage: Wer sollte idealerweise Frauen porträtieren und ihre Geschichten erzählen? Wenn es nach Alberto Barbera geht, dem Leiter der Internationalen Filmfestspiele von Venedig, lautet die Antwort immer noch: vorwiegend Männer.
Zur Rechtfertigung des diesjährigen von Männern dominierten Aufgebots erklärte er, dass "diese Frauenporträts, auch wenn sie von Männern inszeniert werden, eine neue Sensibilität für das weibliche Universum offenbaren, wie es in der Vergangenheit selten der Fall war". Diese Haltung mag umstritten sein, aber sie bewahrheitet sich zumindest teilweise im Falle von The Scarecrows (dt. "Die Vogelscheuchen"), einem Film von Nouri Bouzid, der in der Sektion Sconfini des Festivals uraufgeführt wurde.
In The Scarecrows verleiht Bouzid Frauen eine Stimme, deren Berichte über sexuelle Ausbeutung durch den IS aus der Zeit um 2013 totgeschwiegen und meist als politische Propaganda abgetan wurden. Der sogenannte "sexuelle Dschihad" hinterließ viele Opfer: Einige wurden in Gefangenschaft getötet, andere beginnen nach ihrer Rückkehr in die Heimat Selbstmord.
Von der Gesellschaft geächtet
Der Film erzählt die erschütternde Geschichte von Zina (Nour Hajri) und Djo (Joumène Limam), zwei 20-jährige Frauen, die aus der Gefangenschaft in einer dschihadistischen militanten Gruppe aus Syrien fliehen konnten und anschließend aus dem Gewahrsam der tunesischen Polizei entlassen wurden.
Zina ließ ihren neugeborenen Sohn zurück und leidet schwer unter diesem Verlust. Djo ist mit einem nicht gewollten Kind schwanger. Sie verliert ihre Sprache und kann ihre Traumata nur ausdrücken, indem sie die Geschehnisse schriftlich zu Papier bringt.
Die Rechtsanwältin Nadia (Afef Ben Mahmoud) und die Ärztin Dora (Fatma Ben Saïdane) kümmern sich um die beiden und unterstützen sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte. Zina droht die Verlegung in ein Lager für Islamisten, wenn es ihr nicht gelingt, ihre Distanzierung von militanten Gruppen glaubhaft zu machen.
Nadia hilft auch Driss, einem 21-jährigen homosexuellen Mann, der verfolgt wird und aus allen Bildungseinrichtungen verwiesen wurde. Die beiden von der Gesellschaft Geächteten freunden sich an, teilen ihre Traumata und finden Halt darin, sich gegenseitig zu helfen.
Djo hingegen wird ständig von Rückblenden eingeholt. Sie bricht unter dem Kampf gegen die Dämonen der Vergangenheit zusammen und begeht Selbstmord.
Zielscheibe männlicher Wut
Während Zina versucht, ihre Traumata zu bewältigen, wird sie immer wieder von Männern aus ihrer Heimatstadt missbraucht. Sogar ihr Vater versucht, sie lebendig zu verbrennen. Eher will er sie sterben sehen, anstatt die vermeintliche Schande tragen zu müssen.
Im Laufe des Films erfahren wir, dass Zina bereits während der Schulzeit zur Zielscheibe seiner Wut geworden war, als die rebellische Tochter "ihren Körper zur Schau stellte", wie ihre Mutter es ausdrückt, und ihre Sexualität auslebte.
In der Schlussszene schafft es ihre Mutter, ihr zur Flucht vor dem Vater zu verhelfen, ohne allerdings sich selbst in Sicherheit bringen zu können. Der Film endet mit einer bitteren Hoffnung auf Besserung: Zinas Generation kann möglicherweise die Zwänge des Patriarchats abwerfen; für ihre Mutter aber ist es zu spät.
The Scarecrows ist im Kern ein feministischer Film. Bouzid hat eine klare Agenda und bezeugt insofern die Worte Barberas: Sein Film ist der Sache der Frauen gewidmet. Der Regisseur besetzt seinen Film fast ausschließlich weiblich. Er zeichnet ein äußerst sorgfältiges Porträt von Frauen in Not und von denjenigen, die führende Positionen in der Gesellschaft einnehmen.
Er setzt sich intensiv und kritisch mit den toxischen Merkmalen einer traditionellen patriarchalischen Gesellschaft auseinander, die ihre Doppelmoral als Frömmigkeit ausgibt.
Weibliche Erfahrungen aus männlicher Sicht
Bouzid versucht, das Leben der Frauen in Tunesien zu zeigen, indem er möglichst viele exemplarische Szenen einfängt, die das von männlicher Gewalt verursachte Leid von Frauen veranschaulichen. Er verbindet dies mit einer Erzählung, die wie ein fieberhafter Traum anmutet.
Der Regisseur stellt damit hohe Anforderungen an den Zuschauer. Fast hat man den Eindruck, Bouzid will mit besten Absichten eine jahrhundertelange Unterdrückung auf Spielfilmlänge wettmachen.
Anstelle seines Versuchs, alles erzählen zu wollen, hätte es dem Film gut getan, der inneren Unruhe der beiden Hauptfiguren tiefer und subtiler nachzuspüren. Bouzid greift oft zu schonungslosen Nahaufnahmen, die uns in die Intimsphäre der Protagonisten eindringen lassen.
Unterbrochene Dramaturgie
Er vergrößert jede Träne, jeden blauen Fleck und jeden Muskelkrampf. Dennoch lässt er uns damit nicht wirklich an der emotionalen Not teilhaben. Kameramann Hatem Nechi hält diese Intimität wachsam fest, wird von Bouzids Dramaturgie allerdings ständig unterbrochen.
Bouzids Herangehensweise an The Scarecrows mag nicht zu einem vollständig schlüssigen und fesselnden Kinoerlebnis führen, aber der Film ist dennoch jede Minute seiner Zeit wert. Der öffentliche Diskurs um die sehr reale Geschichte der Opfer des "sexuellen Dschihad" sowie die fragwürdige und ungerechte Behandlung von Frauen in Tunesien sollten nicht auf kurzlebige Medienereignisse beschränkt sein.
Tunesien gilt unter den arabischen Ländern als das Land, in dem die Frauenrechte am weitesten entwickelt sind. Dennoch gibt es immer noch große Ungleichgewichte. The Scarecrows füllt die Lücke, die das Land in der jüngsten Filmgeschichte hinterlassen hat.
Bouzid setzt sich nicht zum ersten Mal mit der tunesischen Gesellschaft kritisch auseinander. In seinem Debütfilm, Man of Ashes (dt. Der Mann aus Asche) (1986), stand die Homosexualität im Mittelpunkt. Seine späteren Filme, wie Millefeuille (dt. Schafgarbe) (2012), befassen sich mit Frauen, die sich die Freiheiten der Männer erkämpfen wollen.
Wenn die bekanntermaßen beharrungskräftigen Filmfestspiele von Venedig damit überfordert sind, Frauen ihre Geschichten erzählen zu lassen, und wenn die Tunesier eher bereit sind, Frauen zu unterstützen, wenn diese Forderung von Männern kommt, dann springen Filmemacher wie Bouzid mit ihren sorgfältigen Porträts zumindest in die vorhandene Lücke, indem sie denen eine Stimme verleihen, die darum kämpfen, gehört zu werden.
Adela Lovric
© Qantara.de 2019
Aus dem Englischen von Peter Lammers