Musiktraditionen verbinden
Kayhan Kalhor wird 1963 in Kermanshah als Sohn einer kurdischen Familie geboren und erhält ab dem siebten Lebensjahr Musikunterricht. Sein Instrument ist die persische Stachelgeige Kamancheh. Im Alter von zwölf Jahren tritt Kalhor erstmals mit dem Rundfunk- und Fernsehorchester seiner Heimatstadt auf. Sechs Jahre später spielt er bereit im "Shayda Ensemble" des Tar-Meisters Mohammad Reza Lotfi, das dieser am renommierten "Chavosh-Institut" in Teheran leitet.
Für viele Musikfreunde jener Zeit ist der junge Virtuose ein Wunderkind. Er ist zudem ehrgeizig und begierig, immer mehr über die Musik und ihre Herkunft zu erfahren. Deshalb studiert er nicht nur die Ordnung und Systematik der traditionellen persischen Musik ("Radif"), sondern reist auch in die iranischen Provinzen Khorasan und Kordestan, deren Volksmusik-Traditionen ihn besonders interessieren. In einem 2012 geführten Interview wird er später dazu sagen: "Es gibt keine traditionelle iranische Musik ohne die Volksmusik. Sie ist die Vorfahrin der klassischen persischen Musik."
Kayhan Kalhors Interesse gilt aber nicht nur der iranischen Musik. Deshalb reist er 1984, im Alter von 21 Jahren, nach Rom und wird dort Student am "Conservatorio di Musica Santa Cecilia". Das dort begonnene Studium der westlichen klassischen Musik setzt er 1986 an der "Carleton University" in Ottawa fort. Ein Jahr nach dessen Abschluss lässt sich Kalhor in den USA nieder, wo er von 1993 bis 2017 lebt, unterbrochen nur von längeren Konzertreisen und Iran-Aufenthalten.
Hommage an Schadscharian und Nazeri
Im Iran tritt Kayhan Kalhor mit vielen bekannten Vertretern der klassischen persischen Kunstmusik auf und komponiert Stücke für bekannte Sänger wie Mohammad Reza Schadscharian und Shahram Nazeri. Schon 1991 wird Kalhor Mitbegründer des "Ensembles Dastan", ein traditionelles iranisches Orchester, das in wechselnden Besetzungen bis heute fortbesteht.
Kalhor bleibt nur wenige Jahre Mitglied der Musikgruppe. Längst blickt er weit über den Horizont der iranischen Musik hinaus und entdeckt Verbindendes in benachbarten Musikkulturen. 1997 gründet Kayhan Kalhor deshalb zusammen mit dem Sitarspieler Shujaat Khan das "Ghazal Ensemble", in dessen Musik nordindische und klassische persische Musik miteinander verschmelzen.
Etwa zur selben Zeit hat der US-amerikanische Cellist Yo-Yo Ma die Idee zu einem internationalen Musikernetzwerk, dem "Silk Road Project". Kayhan Kalhor wird bald Teil des Kollektivs und bleibt es bis heute. Für das Album "Sing me Home" erhält die Gruppe 2017 den Grammy Award in der Kategorie Weltmusik.
Der Einstieg Kalhors in das "Silk Road Project" markiert den Beginn einer Reihe weiterer, sehr erfolgreicher Kollaborationen des Ausnahme-Instrumentalisten: so beispielsweise mit dem "Kronos Quartett" (2000), dem New Yorker Streichquartett "Brooklyn Rider" (2008 und 2012) sowie mit dem türkischen Saz-Virtuosen Erdal Erzican (seit 2013).
Heute gehört Kayhan Kalhor zu einem renommierten Kreis internationaler Musiker, deren Namen gleichsam als Synonym für die von Ihnen gespielten Instrumente stehen oder standen – zum Beispiel Djivan Gasparyan für die Duduk, Ravi Shankar für die Sitar und Kalhor selbst für die Kamancheh. Auf der persischen Stachelgeige hat er es nicht nur zu unerreichter Meisterschaft gebracht, sondern diese auch immer wieder aus dem Kontext der traditionellen Musik Irans herausgelöst und in die Arbeit mit Instrumentalisten aus anderen Weltregionen und musikalischen Genres eingebracht.
Fehlende Kunst der traditionellen Improvisation
In einem jüngst im britischen Musikmagazin Songlines erschienenen Interview bemängelte zwar Kalhor, dass es den an westlichen Konservatorien ausgebildeten Musikern häufig an der Fähigkeit zur uralten Kunst des Improvisierens - wie etwa in seiner Kultur - fehle.
Dass eine Zusammenarbeit mit solchen akademisch geprägten Musikern dennoch wunderbar gelingen kann, beweist einmal mehr Kayhan Kalhors jüngstes Album "It's still Autumn", das er zusammen mit dem "Rembrandt Frerichs Trio" im vergangenen Jahr aufgenommen hat. Mit den niederländischen Jazz-Musikern entwickelte Kalhor eine ganz eigene musikalische Sprache, die den Zuhörer durchaus in eine hochmeditative Stimmung versetzen kann.
Für sein bisheriges musikalisches Gesamtwerk ist Kayhan Kalhor mehrfach ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem WOMEX Artist Award 2019. Den Preis widmete der stets bescheiden auftretende Künstler "im Namen aller iranischen Musiker dem Vermächtnis Mohammad Reza Schadscharians".
Nachdem Kayhan Kalhor lange Jahre in Nordamerika gelebt hat, kehrte er 2017 wieder in den Iran zurück. Gegenüber US-amerikanischen Medien begründete er diesen Schritt mit der gegen Einwanderer gerichteten Politik der Trump-Regierung. "Zuhause ist dort, wo das Herz glücklich ist. Und das sind die USA heutzutage nicht", so Kalhor.
Bernd G. Schmitz
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