Mutation der Religion

Die kruden Heilsversprechen und Ideologiekonstrukte des IS in Verbindung mit Endzeitphantasien, die über Filme und Magazine im Internet verbreitet werden, machen die Terrormiliz auch für radikale Kräfte aus Europa attraktiv. Von Michael Kiefer

Von Michael Kiefer

Nach jüngsten Schätzungen des in London ansässigen "International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence" (ICSR) kämpften in den Bürgerkriegsgebieten in Syrien und Irak Ende des Jahres 2014 mehr als 20.000 ausländische Kombattanten. Von diesen kommt gut ein Fünftel aus westeuropäischen Staaten. Damit ist Europa für die Schergen des "Islamischen Staats" (IS) das zweitwichtigste Rekrutierungsgebiet.

Sehr hoch sind die Ausreisezahlen in Belgien, Dänemark und Schweden. Alleine das kleine Belgien hatte bis zum Jahresende 440 Ausreisende zu verzeichnen. Das sind 40 Ausgereiste auf eine Million Einwohner. Weniger dramatisch stellen sich die Zahlen für Deutschland dar. Hier konnten im Erhebungszeitraum 500 bis 600 Personen erfasst werden, die sich mutmaßlich in Kampfgebiete begeben hatten. Bezieht man diese Zahl auf die Gesamtbevölkerung, so ergibt sich eine Relation von sieben Ausgereisten auf eine Million Einwohner.

Bei der Betrachtung dieser insgesamt hohen Zahlen drängen sich eine Reihe von Fragen auf: Wer zieht in den Krieg? Welche Motive haben die Ausreisenden? Und was tun Muslime und Zivilgesellschaft gegen diesen ausufernden Bürgerkriegstourismus?

Überwiegend Männer im Dienste des neuen "Kalifats"

Zumindest die erste Frage kann aufgrund der mittlerweile vorliegenden Erkenntnisse einigermaßen befriedigend beantwortet werden. Polizeidaten, Geheimdiensterkenntnisse aber auch Berichte aus Schule und Jugendhilfe zeigen, dass es überwiegend Männer sind, die sich als Kämpfer dem neuen "Kalifat" andienen.

Ausgabe der IS-Zeitschrift DABIQ
Fanal der Selbsterhöhten: Das Magazin DABIQ, das bislang in sieben Ausgaben erschienen ist, liefert IS-Propaganda in Fülle. Angesichts dieser Bilder ist es wenig verwunderlich, dass in den sozialen Netzwerken der Neosalafisten die Kämpfer des IS als "Löwen" und "Helden" gefeiert werden.

In Deutschland waren bis Juni 2014 von 378 ausgereisten Personen 89 Prozent Männer. Die meisten von Ihnen waren zwischen 16 und 29 Jahre alt. Die Bildungshintergründe der selbsternannten Kombattanten sind heterogen. Viele verfügen nur über geringe schulische Bildung. Es gibt aber auch Studenten und Akademiker, die sich zur Ausreise entschlossen haben.

Der britische Terrorismusforscher Max Taylor hat deshalb darauf hingewiesen, dass bei weitem nicht alle potenziellen Dschihadisten sozial depraviert sind. Manche wählen die Radikalisierung aus freien Stücken. Auch die Religionszugehörigkeit der Ausgereisten lässt keine eindeutigen Aussagen zu. Neben Muslimen finden wir Angehörige anderer Religionen, die in diese krude Form eines selbstgebastelten Islams "konvertiert" sind.

Viele muslimische Kämpfer waren vorher wenig religiös und kommen aus Familien, die nicht regelmäßig die Moschee besuchen. Hinzu kommt, dass eine erhebliche Zahl von Ausgereisten im Vorfeld Straftaten begangen hat. Aufgrund der skizzierten Heterogenität ist eine präzise Eingrenzung der Risikogruppe nicht möglich.

Eindeutige Aussagen zu den Faktoren und Verläufen von Radikalisierung sind gleichfalls nicht möglich. Hauptproblem sind hier fehlende Studien, die sich auf der Grundlage einer soliden Datenbasis mit dieser Problematik befassen. Der Islamische Staat und seine Mobilisierungsstrategien sind ein sehr junges Phänomen. Für die Präventionsarbeit brauchbare Forschungsergebnisse sind frühestens in ein oder zwei Jahren zu erwarten.

Der Krieg in Syrien als endzeitliche Mission

Ungeachtet der vorhandenen Forschungslücken können die Attraktivitätsmomente des IS einigermaßen treffend beschrieben werden. Einer der wirksamsten Mobilisierungsfaktoren ist eine eschatologische Vision, die von der hochprofessionellen IS-Propaganda seit knapp zwei Jahren verbreitet wird.

Im Zentrum der Erzählung, die sich auf einen Hadith (die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed) stützt, steht die kleine syrische Ortschaft Dabiq unweit von Aleppo. Dort werde eine der größten Schlachten zwischen den Muslimen ("den besten Leuten der Erde") und den "Kreuzzüglern" stattfinden.

Anschließend begänne die Eroberung von Konstantinopel und Rom. Im Kontext der Dschihadpropaganda wird der Krieg in Syrien damit zu einer endzeitlichen Mission, an der sich jeder aufrechte Muslim beteiligen muss. Das Mobilisierungspotenzial dieser Endzeitphantasien, die über Filme und Magazine im Internet verbreitet werden, kann kaum überschätzt werden.

Verstärkt wird die Mobilisierung durch weitere Faktoren, die in der kompakten Weltsicht des IS angelegt sind. An erster Stelle können hier eine Reihe von psychosozialen Effekten angeführt werden. Die krude Ideologie des IS ermöglicht ihren Anhängern zunächst den Akt der Selbsterhöhung. Möglich wird dieser auf der Grundlage einer dichotomen Weltsicht, die ausschließlich zwischen "Gläubigen" und "Ungläubigen" zu unterscheiden vermag.

Selbstredend steht der "Gläubige" auf der ultimativ richtigen Seite und damit über all jenen, die nicht der Ideologie des IS zu folgen vermögen. Verbunden hiermit ist oftmals der Akt einer umfassenden Selbstermächtigung. In "göttlicher" Mission kämpfend, kennen Kombattanten des IS keine Grenzen. Selbst kaum beschreibbare Gewaltexzesse wie Massenhinrichtungen von Kriegsgefangenen und Gräuel an der Zivilbevölkerung scheinen statthaft. Damit entwickelt der Krieg in Syrien und Irak auch eine Sogwirkung auf jene zwielichtigen Gestalten, die ihre mitunter pathogenen Gewaltphantasien ausleben möchten.

Salafisten verteilen Koranausgaben in Berlin; Quelle: picture-alliance/dpa/Britta Pedersen
Neosalafismus als „Negation jeglicher Kultur“: Der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy ist der Ansicht, dass der Neosalafismus eine Mutation von Religion darstelle, für die konstatiert werden könne, dass sie die heiligen Texte außerhalb des kulturellen und historischen Kontextes wortwörtlich zum Sprechen brächte.

Ein weiteres, bislang wenig untersuchtes Phänomen, kann mit dem Begriff der Hypermännlicheit bezeichnet werden. Nahezu alle Propagandaprodukte des IS, die vom Al-Hayat-Media-Center produziert werden, zelebrieren den gut aussehenden und lässig gestylten Kämpfertyp, der selbst in extremen Gefechtssituationen eine "gute Figur" macht.

Anschauungsmaterial hierfür liefert in Fülle das Magazin DABIQ, das bislang in sieben Ausgaben erschienen ist oder die Filmproduktion "Flames of War". Hier sind in langen Zeitlupeneinstellungen schwarz gekleidete junge Männer mit Bärten und schulterlangem Haar zu sehen, die ohne Mühe den Druckwellen schwerer Mörsergranaten standhalten. Angesichts dieser Bilder ist es wenig verwunderlich, dass in den sozialen Netzwerken der Neosalafisten die Kämpfer des IS als "Löwen" und "Helden" gefeiert werden.

Kameradschaft und "gute" Gemeinschaft

Gleichfalls ein bedeutsames Mittel in der Rekrutierungsstrategie der IS-Unterstützer in Europa ist das Versprechen von Kameradschaft und "guter" Gemeinschaft. Die Gruppenzusammenhänge der Unterstützerszene bieten ein Gefühl der Gleichheit in einer multiethnischen Gruppe. Darüber hinaus bietet das Gemeinschaftsleben Anerkennung und Respekt. Niemand fragt nach dem Vorleben oder Stationen des individuellen Scheiterns. Menschen, die sich dem IS anschließen, machen tabula rasa und beginnen ein neues Leben.

Abschließend wäre zu erörtern, was die neosalafistische Mobilisierung und der „Islamische Staat“ mit dem Islam und den Muslimen zu tun haben? Zu dieser schwierigen Fragestellung gibt es selbst unter ausgewiesenen Fachleuten eine seit geraumer Zeit andauernde Kontroverse.

Manche behaupten, dass Koran und Sunna Textpassagen enthielten, mit deren Hilfe dschihadistische Positionen theologisch untermauert werden könnten. Diese Grundannahme findet bei den Islamwissenschaften und der islamischen Theologie keineswegs ungeteilten Zuspruch.

Insbesondere der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy hat in den vergangenen Jahren wiederholt darauf hingewiesen, dass es sich bei der neosalafistischen Bewegung nicht um eine Folge der islamischen Kultur handele. Vielmehr sei der Neosalafismus "die Negation jeglicher Kultur". Der Neosalafismus sei eine Mutation von Religion, für die konstatiert werden könne, dass sie die heiligen Texte außerhalb des kulturellen und historischen Kontextes wortwörtlich zum Sprechen brächte.

Dr. phil. Michael Kiefer, Foto: privat
Der Autor ist promovierter Islamwissenschaftler und arbeitet beim Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.

Die Inszenierung von Religiosität werde hierdurch karger, kompromissloser, auf sich selbst bezogen. In der Tat zeigt eine Analyse der bislang erschienen Ausgaben der DABIQ, dass hier eine vereinfachte, reduktionistische "Theologie" und damit Klarheit und Eindeutigkeit im Gegensatz zu traditionellen komplexen islamischen Lehren vorzufinden ist. Anders formuliert: Mit der klassischen islamischen Theologie, in der vernünftig über Gott gesprochen wird, hat die IS-Ideologie keine Gemeinsamkeiten.

Krude und einfältige Ideologie

Zu dieser Schlussfolgerung kann man auch auf der Grundlage der Stellungnahme von 120 islamischen Gelehrten gelangen, die im September 2014 vorgelegt wurde. Diese weist detailliert nach, dass der IS gegen fundamentale islamische Prinzipien verstößt.

Angesichts dieser Befunde erscheint auch die Rolle der muslimischen Gemeinschaften in Westeuropa in einem neuen Licht. Immer wieder wurde von Politik und Medien die Forderung erhoben, die Muslime mögen sich von Salafismus und Dschihadismus distanzieren. Doch von was genau soll man sich distanzieren? Der Neosalafismus und der mit ihm verbundene Dschihadismus sind eine krude und einfältige Ideologie, die Elemente des Islam willkürlich herausgreift und instrumentalisiert.

Hauptleidtragende dieser Instrumentalisierung sind in jedweder Hinsicht die Muslime selbst. Hinzu kommt – und auch das wurde bislang nicht ausreichend begriffen: Radikalisierungsprozesse junger Menschen finden in der Regel abseits der Moscheegemeinden statt. Betroffen hiervon sind in einer nicht unerheblichen Zahl auch Konvertiten mit ursprünglich christlichen oder anderen religiösen und weltanschaulichen Hintergründen.

Folglich sind die präventiven Wirkmöglichkeiten der muslimischen Gemeinden erst gar nicht vorhanden oder nur gering. In der noch jungen Radikalisierungsprävention geht man deshalb davon aus, dass die neosalafistische Mobilisierung und die Netzwerke des IS sich nur mit einer gesamtgesellschaftlichen Agenda nachhaltig bekämpfen lassen.

Michael Kiefer

© Qantara.de 2015