Der Schwanengesang der Osmanen
Das erste Buch von Altans "osmanischer Reihe" trägt den Titel "Like A Sword Wound". Es handelt vom Ende des Osmanischen Reichs und seiner Sultane, die dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Macht waren. Schon für sich betrachtet handelt es sich hierbei um einen wichtigen Roman. Und angesichts der gegenwärtigen Lage in der Türkei wird dem Buch noch eine besondere Bedeutung zuteil: Wenn Altan von einer autokratischen und korrupten Führung erzählt, die sich verzweifelt an die Macht klammert, drängt sich der Vergleich mit der aktuellen türkischen Regierung auf, die versucht, ihre Bevölkerung unter Kontrolle zu halten.
Mit diesem Buch erwartet uns mehr als nur ein rein historischer oder politischer Roman. Altan nimmt uns mit auf eine Reise, um zu zeigen, wie stark unsere Erinnerung an historische Ereignisse von jenen abhängt, die sie uns erzählen. Das Kapitel der türkischen Geschichte, das er beschreibt, sehen wir aus zwei Perspektiven: nicht nur durch die Augen der Menschen dieser Epoche, sondern auch durch die des Hauptdarstellers Osman, der in einer – nicht näher bestimmten – Zukunft lebt und glaubt, er werde von den Geistern der damaligen Zeit heimgesucht.
So reist Osman zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her. Die Geister seiner seit langem toten Familienmitglieder dringen in sein heruntergekommenes, ärmliches Zimmer ein, um ihn mit ihren gehässigen und fanatischen Erzählungen aufzusuchen. Einer von ihnen hegt einen persönlichen Groll gegen die im Buch vorkommenden Frauen. Er bezeichnet sie als Huren, die die Männer vom rechten Weg abbringen. Andere wollen einfach nur berichten, was damals geschehen ist. Einer von ihnen war Soldat in der Armee des Sultans. Andere leben als Würdenträger im Palast, darunter auch der Leibarzt des Sultans und sein Sohn.
Ein Chor der Geister
All diese Geister sind wie Stimmen aus dem Hintergrund, oder, wenn man so will, Mitglieder eines Chors. Sie kommentieren die Erzählung, wie sie sich in der Vergangenheit entwickelt. Allerdings spielt sich all dies in der Gegenwart ab: Wir sind Zeuge der Ereignisse beider Zeitperioden, als fänden sie hier und jetzt statt – direkt vor unserer Nase. So erschafft Altan eine Vergangenheit, die uns viel wirklicher erscheint als die sogenannte Gegenwart.
Osman, die Hauptfigur, scheint in einer halluzinogenen Welt zu leben. Diese Welt ist von den Geistern der Vergangenheit bewohnt, die ihm ihre eigenen Versionen der damaligen Ereignisse ins Ohr flüstern. Während der Romanheld all dies vernimmt, erfahren wir als Leser aber gleichzeitig, was damals wirklich geschah.
Intrigen, Zynismus, Zerfall
So werden wir zu Zeugen der Vergangenheit. Im Gegensatz zu den Romanfiguren kennen wir den historischen Verlauf aller Intrigen, Machenschaften und Verschwörungen. Doch in dem Roman Altans werden wir auch Zeuge, wie sich das Leben der Menschen in jener Zeit entfaltet – und dieses Leben unterscheidet sich erheblich von der Version, die Osman von seinen Besuchern präsentiert bekommt.
So verwebt Altan geschickt mehrere Handlungsstränge, um uns die Auflösung des Kaiserreichs vor Augen zu führen – von Osteuropa bis nach Istanbul. Aus der Perspektive der osmanischen Soldaten und Beamten erfahren wir, wie der Drang nach politischer Autonomie in Bulgarien und die zunehmende Unzufriedenheit mit dem Sultan in der Hauptstadt schließlich dazu führen, dass das Reich unwiderruflich ins Wanken gerät.
Der schwache Sultan vom Bosporus
Den Sultan selbst beschreibt Altan als schwachen Mann, der seine Ministerien den Paschas überlässt, die ihre Machtstellung dazu missbrauchen, kleinliche Kämpfe auszufechten und ihre eigenen Taschen zu füllen. Dabei ist die Regierung nicht nur moralisch, sondern auch finanziell bankrott: Sie ist so arm, dass sie nicht einmal mehr ihre Soldaten bezahlen kann.
Dass das Militär mit dem Sultan und seinen Paschas immer unzufriedener wird, beruht zunächst hauptsächlich auf Eigeninteresse. Ländern wie Bulgarien zu erlauben, sich selbst zu regieren, halten einige für vorteilhaft, während andere Verrat wittern. Aber alle sind sich einig, dass der Sultan etwas gegen die Korruption in seiner Regierung tun muss.
Es überrascht nicht, dass das Bild, das Altan von der türkischen Oberschicht zeichnet, nicht sehr schmeichelhaft ist. Sie verhält sich so, wie wir es von der Aristokratie in einem sterbenden Kaiserreich erwarten: Ihrer Meinung nach kennen Arbeiter und Tagelöhner, die ihre Rechte einfordern oder einfach satt werden wollen, ihren Platz in der Gesellschaft nicht und sollten entsprechend behandelt werden – natürlich außer Sichtweite, und ohne die Ruhe und den Frieden ihrer Vorgesetzten zu stören.
Parallelen zur Gegenwart
Dieser Roman regt dazu an, zwischen seiner Handlung und den Entwicklungen in der heutigen Türkei Parallelen zu ziehen – insbesondere weil Altan momentan wegen "unterschwelliger" Förderung des Putsches gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Gefängnis sitzt. Allerdings wurde das Buch bereits 1997 geschrieben, also lange bevor die AKP an die Macht kam. Doch Altan hatte sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt für die kurdischen und armenischen Minderheiten in der Türkei eingesetzt, und so ist seine Kritik des damaligen türkischen Nationalismus umso bedeutsamer.
In gewisser Weise liest sich "Like a Sword Wound" wie ein großer Abenteuerroman: Er steckt voller Intrigen, Spannung, Romanzen und politischen Wirrungen. Aber obwohl die einzelnen Ereignisse – von den internen Kämpfen im Palast bis hin zu den Zuständen an Bord der osmanischen Kriegsschiffe – sehr detailliert beschrieben werden, lassen sie doch den Strom des allmählichen Abgesangs der Osmanen erahnen, der stetig voranschreitet.
Richard Marcus
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff