Die verlorene Ehre der Nemi El-Hassan

Wenn Nachwuchsjournalisten ausländischer Herkunft sind und eine ungewohnte politische Sozialisation hinter sich haben, dann steht es schlecht um ihre Berufschancen. Am 10. September stellte der WDR die 28-jährige Journalistin Nemi El-Hassan als künftige Moderatorin der renommierten Wissenschaftssendung "Quarks" vor. Dann begann eine Kampagne der "Bild"-Zeitung, die alles veränderte. Ein Kommentar von Stefan Buchen

Essay von Stefan Buchen

Wegen Antisemitismus-Vorwürfen hat der WDR entschieden, die Journalistin Nemi El-Hassan das Wissenschaftsmagazin "Quarks" nicht moderieren zu lassen. Es hätten sich in den sozialen Netzwerken "problematische Likes" von ihr aus jüngster Zeit gefunden, erklärte WDR-Intendant Tom Buhrow vor dem Rundfunkrat. Das Problem sei in seinen Augen "nicht so sehr" die Teilnahme von Frau El-Hassan an der Quds-Demonstration in Berlin 2014, von der sie sich ja distanziert habe, so Buhrow. Der WDR "erwäge", wie der Intendant weiter ausführte, die 28-Jährige als Autorin für "Quarks" arbeiten zu lassen, also nicht vor, sondern hinter der Kamera.

Daraufhin meldeten sich zahlreiche Mitglieder des Rundfunkrats und forderten "ganz überwiegend", dass El-Hassan gar nicht für den WDR tätig sein solle. Sie könne weder vor noch hinter der Kamera einen Platz haben. Der Rundfunkratsvorsitzende Andreas Meyer-Lauber sagte: "Antisemitische Positionen können und dürfen im WDR keinen Platz haben.“ Daran lasse man nicht rütteln.

Das vermeldete die Nachrichtenagentur dpa am 28. September. Damit war das Narrativ in Stein gemeißelt. Der WDR wäre gern großzügig gewesen, wenn es nur um die Jugendsünde des Mitlaufens auf einer gegen Israel gerichteten und vom iranischen Regime organisierten Demo vor sieben Jahren gegangen wäre. Aber leider hat sich Nemi El-Hassan noch in diesem Sommer mit Likes unter Instagram-Posts des Antisemitismus verdächtig gemacht. Solche Positionen sind nicht zu tolerieren. Angesichts dieser neu aufgetauchten aktuellen Spuren im Internet erscheint ihre Entschuldigung für die Demo-Teilnahme in einem ganz anderen Licht. Sie hat die Distanzierung nicht ehrlich gemeint. Somit gibt es für die Journalistin keinen Platz im WDR.

Fall erledigt? Mitnichten!

Der Leser hat keine Fragen mehr. Die Nachricht liest sich schlüssig. Der WDR hat den Fall gründlich untersucht und es sich nicht leicht gemacht. "Schwierig, schwierig" sei die Abwägung gewesen, erklärte Intendant Buhrow. Am Ende kam man zu dem wohlbegründeten Schluss, Nemi El-Hassan nicht auf den Bildschirm zu lassen.

Fall erledigt? Mitnichten! Das Problem ist, dass dieses Narrativ, versehen mit dem Stempel der Objektivität ("wie die dpa meldet"), 2021 in Deutschland durchkommt, ohne hinterfragt zu werden. Dass die "Bild"-Zeitung das "belastende Material" gegen Nemi El-Hassan in Umlauf brachte, ist schon fast vergessen. Dabei kann man diese Geschichte eigentlich nicht einmal der berühmten Großmutter erzählen. Sie hat zu viele Lücken und kommt zu einem falschen Schluss.

Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland Avi Primor; Foto: picture-alliance/dpa
Avi Primor war 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Gemeinsam mit dem Historiker Moshe Zimmermann hat er eine Erklärung zum Fall Nemi El-Hassan verfasst. Darin befassen sie sich mit den drei umstrittenen Postings, die El-Hassan "gelikt“ hatte. So habe sie einen Post mit "Gefällt mir" angeklickt, in dem es um den Boykott israelischer Waren aus den besetzten Gebieten ging, schreiben die Autoren. Darin würden sie jedoch keinen antisemitischen Akt sehen. "Die Unterscheidung zwischen Waren aus dem Kernland Israel und den besetzten Gebieten wird auch von der internationalen Gemeinschaft (auch von der EU) gemacht.“ In Israel hätte man Journalisten, die ähnliche "Likes“ wie Frau El Hassan machen, nicht verfolgt. Israel sei nicht Ungarn oder Polen – und hoffentlich stehe auch die Bundesrepublik für die Meinungsfreiheit.

Die größte Lücke heißt Palästina. Nemi El-Hassan ist zwar in Deutschland geboren. Aber ihre Großeltern waren weder KZ-Wächter noch haben sie deutsche, polnische oder ungarische Juden an die Gestapo denunziert, in Viehwaggons gepfercht oder in osteuropäischen Wäldern erschossen. Ihre Großeltern sind aus Palästina vertrieben worden.



Von der Fluchtgeschichte der eigenen Familie und der sich daraus ergebenden Identitätsbestimmung geprägt zu sein, darf das zu Brandmarkung, Ausgrenzung und zur Verbannung aus der Öffentlichkeit führen? Müssen Menschen palästinensischer Herkunft ihre Geschichte, ihre Perspektive streichen (delete), wenn sie im Jahr 2021 in Deutschland Erfolg haben wollen? Sind sie zum Schweigen verpflichtet?



Diesen Fragen stellen sich der WDR und sein Rundfunkrat nicht einmal ansatzweise. Stattdessen hantieren sie mit dem Antisemitismus-Vorwurf. "Problematische Likes" und "antisemitische Positionen"- diese Schlagwörter sollen reichen, damit jemand wie Nemi El-Hassan weg vom Fenster ist.

Faktisch versteckt sich der WDR hinter der dpa-Meldung. In einer dürren Erklärung fügte der Sender hinzu, dass eine Tätigkeit Nemi El-Hassans als Moderatorin zu "einer unangebrachten Politisierung" des Wissenschaftsmagazins "Quarks" führen würde.

Worauf genau stützen sich die Vorwürfe? Die drei Postings, unter denen die Journalistin "Gefällt mir" angeklickt hat, befassen sich ausschließlich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Sie feiern den Ausbruch von sechs palästinensischen Häftlingen aus einem israelischen Gefängnis, rufen zum Boykott israelischer Produkte auf und fordern einen Staat zwischen Mittelmeer und Jordan, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt sind. Dieser Staat müsste demnach anders verfasst sein als der Staat Israel in seiner heutigen Form.

Das sind unter Palästinensern verbreitete Standpunkte. In ihnen wird scharfe Kritik an den Herrschaftsverhältnissen zwischen Mittelmeer und Jordan deutlich. Deutsche mit anderen Großmüttern und -vätern als die Nemi El-Hassans sollten diese Standpunkte unbedingt vermeiden. Der Autor dieser Zeilen etwa teilt sie nicht. Und leider gibt es unverbesserliche Deutsche, die "Solidarität mit Palästina" schreien und damit nur ihren Hass auf die Juden meinen.

Gemeinsame Erklärung von Avi Primor und Moshe Zimmermann

Aber ist Nemi El-Hassan antisemitisch, wenn ihr diese Standpunkte "gefallen"? Zwei prominente israelische Intellektuelle weisen diesen Vorwurf nun zurück. Der ehemalige Botschafter in Deutschland Avi Primor und der Geschichtsprofessor Moshe Zimmermann von der Hebräischen Universität haben eine gemeinsame Erklärung zum Fall El-Hassan verfasst, die es in sich hat.

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann; Foto: DW/Sarah Hoffmann
Moshe Zimmermann war bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für Geschichtswissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Gemeinsam mit Avi Primor wertet er den Versuch, die Tätigkeit von Nemi El-Hassan als WDR-Moderatorin mit Antisemitismus-Anschuldigungen zu verhindern als "nicht legitim". Die Kampagne gegen El-Hassan ziele darauf ab, "eine Frau mit palästinensischem Hintergrund zu diskriminieren." Im Gespräch mit Qantara.de bekräftigt Moshe Zimmermann: "Der Fall Nemi El-Hassan zeigt, wie der Kampf gegen den Antisemitismus in die falsche Richtung gelenkt werden kann."

Nemi El-Hassan habe mit ihren Likes nichts Antisemitisches zum Ausdruck gebracht. Die Unterstützung des Boykotts beziehe sich noch dazu auf Waren, die von israelischen Firmen in den besetzten Gebieten hergestellt würden, so Primor und Zimmermann. Das sei kein antisemitischer Akt. Die Unterscheidung zwischen Waren aus dem Kernland Israel und den besetzten Gebieten werde auch von der Europäischen Union gemacht. 

Primor und Zimmermann werten den Versuch, mit solchen Anschuldigungen ihre Tätigkeit als WDR-Moderatorin zu verhindern, als "nicht legitim". Die Kampagne ziele darauf ab, "eine Frau mit palästinensischem Hintergrund zu diskriminieren." Im Gespräch mit Qantara.de bekräftigt Moshe Zimmermann: "Der Fall Nemi El-Hassan zeigt, wie der Kampf gegen den Antisemitismus in die falsche Richtung gelenkt werden kann."

Dem WDR und uns allen sollte man die Kenntnis der Tatsache zumuten, dass in Nahost ein bitterer binationaler Konflikt um ein Territorium tobt. Von beiden Seiten wird dieser immer wieder mit dem Mittel des Mordes ausgetragen. Dass Juden in Deutschland sich auf die Seite Israels schlagen, wird zurecht als normal empfunden. Aber wie halten wir es mit hier lebenden Menschen palästinensischer Herkunft, die sich palästinensischen Positionen verbunden fühlen? Ist da "Null Toleranz" angesagt? Muss dann der Antisemitismus-Vorwurf her? Sind Palästinenser quasi geborene Antisemiten? Im Fall der Journalistin Nemi El-Hassan ist der Vorwurf absurd. Sie hat in einer Reportage für das ZDF-Magazin frontal 21 Neonazis, die den Holocaust leugnen, bloßgestellt.

Es liegt auf der Hand, dass ein gewaltiger Nachholbedarf an Diskussion und Auseinandersetzung besteht. Sie haben rund um den Fall Nemi El-Hassan bisher nicht stattgefunden. Das ist schade, weil die Journalistin und approbierte Ärztin eindrucksvoll gezeigt hat, dass sie dialogbereit und empfänglich für Kritik ist. Was will die Mehrheitsgesellschaft eigentlich mehr?

Eine Kampagne der "Bild"-Zeitung

"Ohne Druck von welcher Seite auch immer" werde man die Sache prüfen, hatte der WDR nach Auftauchen der Vorwürfe gegen Nemi El-Hassan mitgeteilt. Diese Aussage erweist sich als scheinheilig. Man könnte auch sagen, dass sie eine glatte Lüge war. Im Ergebnis hat sich die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt von der "Bild"-Zeitung unter ihrem - inzwischen abgesetzten - Chefredakteur Julian Reichelt treiben lassen. Das Springer-Blatt hat die Story "aufgedeckt". Die vom WDR engagierte Moderatorin sei eine Islamistin, die "Likes für Antisemitismus" vergebe. Dieses Narrativ hatte durchschlagenden Erfolg, obwohl die faktische Grundlage dafür fehlt.

In der "Zeit“ legte WDR-Intendant Tom Buhrow vor zwei Wochen noch eins drauf. Er verlangte in einem Gastkommentar, dass es bei den Öffentlich-Rechtlichen mehr Raum für "unbequeme Haltungen“ geben müsse. Den Fall Nemi El-Hassan erwähnte er in seinem Aufruf für eine Verbesserung der Debattenkultur mit keinem Wort. Aber soll man lamentieren, dass der Gipfel der Heuchelei noch nicht erreicht ist? Nein, Buhrow sollte konsequent sein und Julian Reichelt zum neuen "Quarks"-Moderator machen. Reichelt braucht einen neuen Job und er hat bewiesen, dass er ein Mann unbequemer Haltungen ist. 

Rücksichtslose Demontage

Jenseits des Horizonts von WDR und Rundfunkrat nehmen die Dinge ihren Lauf. Islamisten schlachten die Abkanzelung von Nemi El-Hassan aus. Seht her, diese Gesellschaft wird Euch niemals akzeptieren, lautet die Botschaft etwa von Salafistenprediger Pierre Vogel. Und der Kampf gegen den Judenhass verkommt zu einem billigen Instrument für die Durchsetzung anderer politischer Ziele, sei es die Delegitimierung palästinensischer Selbstbehauptung, sei es die Unterbindung des beruflichen Aufstiegs migrantischer Nachwuchskräfte.

"Eine in jeder Beziehung radikale Person, die uns geschickt getäuscht hat." So brandmarkt die ZEITUNG eine 27-jährige Frau, das "Räuberliebchen" Katharina Blum, in der berühmten Erzählung von Heinrich Böll aus dem Jahr 1974. Das Narrativ von der jungen Frau, der das gesellschaftliche Vorurteil Extremismus, Gefährlichkeit und Raffinesse zuschreibt, kennen wir aus dem literarischen Monument. Ähnlichkeiten der geschilderten "journalistischen Praktiken" mit denen der "Bild"-Zeitung seien "unvermeidlich", heißt es in der Vorbemerkung zu Bölls Erzählung.

Dass diese in Köln spielt, sollten der WDR-Intendant und sein Rundfunkrat vielleicht als Zeichen werten. Die "Verlorene Ehre der Katharina Blum" ist das Paradebeispiel für die rücksichtslose Demontage einer Unbescholtenen, deren "undurchsichtige Vergangenheit" von angeblich wackeren Reportern der BILDZEITUNG enthüllt wird. Der WDR und die Öffentlichkeit scheinen ihre Deutschstunde verpasst und nichts dazugelernt zu haben. Sie lassen es ungerührt zu, dass die Fiktion sich in der Realität wiederholt.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2021

Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama. Er studierte Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv.