Kanal Istanbul: Erdogan startet Megaprojekt

Der Istanbul-Kanal ist Erdogans bisher ehrgeizigstes und auch umstrittenstes Infrastrukturprojekt. Der Kanal soll parallel zum Bosporus verlaufen, der das Schwarze Meer mit dem Marmarameer und dem Mittelmeer verbindet.
Der Istanbul-Kanal ist Erdogans bisher ehrgeizigstes und auch umstrittenstes Infrastrukturprojekt. Der Kanal soll parallel zum Bosporus verlaufen, der das Schwarze Meer mit dem Marmarameer und dem Mittelmeer verbindet.

Mit der Grundsteinlegung für eine Brücke startet der türkische Präsident sein neues Großprojekt: Recep Tayyip Erdogan lässt einen Kanal vom Marmarameer zum Schwarzen Meer graben. Ein Albtraum für viele Anwohner. Hintergründe von Daniel Derya Bellut und Serkan Ocak

Von Daniel Derya Bellut & Serkan Ocak

Der türkische Präsident ist bekannt für seine Vorliebe für gigantische Bauprojekte. Einen neuen Flughafen, die größte Moschee der Türkei oder einen Tunnel, der unter dem Bosporus verläuft - all diese Megaprojekte hat Recep Tayyip Erdogan in kürzester Zeit aus dem Boden stampfen lassen.

Doch das aktuelle Projekt - der Kanal Istanbul - spielt in einer ganz anderen Liga. Die türkische Regierung startet nichts Geringeres, als eine Art zweiten Bosporus parallel zu der berühmten Meerenge, die Europa und Asien trennt und durch die 16-Millionen-Metropole Istanbul schlängelt. An diesem Samstag soll der Grundstein für eine erste Brücke über den künftigen Kanal gelegt werden. Erdogan will an der Zeremonie teilnehmen.

Im Westen der Stadt soll der künstlich angelegte 45-Kilometer-Kanal entstehen und wie der Bosporus das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden. Man wolle den intensiven Schiffsverkehr durch die Meerenge entlasten und Unfälle vermeiden, heißt es aus Regierungskreisen. Nach einer Statistik der Direktion für Küstensicherheit nimmt die Anzahl der Schiffe seit einigen Jahren allerdings ab, Größe und Gewicht der Schiffe nehmen jedoch insgesamt zu.

Angst vor Umweltschäden

Was viele Einwohner Istanbuls lange Zeit als reine Zukunftsmusik abgetan haben, wird nun in Angriff genommen. Trotz vieler Klagen gegen das Projekt soll es nun zum ersten Spatenstich kommen. Im März 2020 hatte die Ausschreibungsphase begonnen - unter den Investoren sollen sich auch zahlreiche Interessenten aus dem Mittleren und Nahem Osten befinden. Wie der Kanal genau finanziert wird, ist allerdings nicht bekannt.

Karte des Megaprojekts der Kanal Istanbul. (Foto: Deutsche Welle)
Karte des Megaprojekts der Kanal Istanbul. (Foto: Deutsche Welle)

Istanbuls sozialdemokratischer Bürgermeister Ekrem Imamoglu (CHP), weite Teile der Stadtbevölkerung und Wissenschaftler kritisieren das Bauvorhaben weiterhin heftig. Auf Demonstartionen waren Plakate zu lesen mit Aufschriften wie, "Ich liebe Marmara, ich will nicht, dass es stirbt" und "Lasst es uns stoppen". Die wichtigsten Argumente gegen den Bau des Kanals sind die Sorgen vor schweren Umweltschäden. 

Zwar hat das türkische Ministerium für Umwelt und Städtebau Ende 2019 mit einer Umweltverträglichkeitsprüfung (CED) das Bauvorhaben begutachtet und für "positiv" befunden. Doch unabhängige Wissenschaftler prognostizierten verheerende Auswirkungen, falls der Kanal-Bau verwirklicht werden sollte. 

Trinkwasserreservoir muss weichen

Der Generalsekretär der Istanbuler Kammer für Umweltingenieure, Medat Güney, sagte der DW bereits vor Wochen, dass jeden Tag neue Beschwerden in der Kammer eingingen. "Der gesamte Sazlidere-Staudamm, das wichtigste Trinkwasser-Reservoir auf der europäischen Seite, soll dem Kanal weichen. Auch der Terkos-See soll laut des CED-Berichts in den Kanal integriert werden", so Güney.

Das Wasser, das durch den Kanal verloren ginge, soll durch den geplanten Bau des Melen-Staudamms kompensiert werden - ein weiteres Mega-Projekt, das 200 Kilometer östlich von Istanbul entstehen soll. "Das wird dazu führen, dass die Kosten für Wasser stark ansteigen werden", prognostiziert Güney. Dies wiederum würden die Steuerzahler zu spüren bekommen.

Bürgermeister Imamoglu bei einer Pressekonferenz am Sazlidere-Damm am 22.6.2021. (Foto: Emrah Gurel/AP/picture alliance)
Sorgen vor Umweltschäden: Experten warnen vor irreparablen Schäden am Ökosystem um Istanbul - und davor, dass Trinkwasserressourcen gefährdet würden.

Das Ökosystem an der geplanten Kanaltrasse verfügt über eine reiche Flora und Fauna mit einer großen Zahl von Pflanzen- und Säugetierarten. Durch den Aushub würden auch seltene und gefährdete Arten vom Aussterben bedroht. Vögel nutzen das Gebiet um die Seen zur Brut und Überwinterung. 

Umweltschützer verweisen außerdem darauf, dass für den Kanal Wälder im Norden der Stadt gerodet werden müssten. Einer Studie der Istanbuler Stadtverwaltung (Kanal Istanbul Calistay Raporu) zufolge müssten für den neuen Kanal mehr als 200.000 Bäume gefällt werden - zudem würden 136 Quadratkilometer landwirtschaftliche Fläche und 13 Quadratkilometer Weidefläche vernichtet. 

Platz für 1,2 Millionen Einwohner

Der Forstwissenschaftler Doganay Tolunay von der Istanbul Universität sagte der DW, dass der CED-Bericht ungenügend sei. Man habe nur die unmittelbare Stelle, wo der Kanal ausgehoben wird, untersucht. "Es gibt an mindestens zehn Punkten Mängel. Die Auswirkungen auf den Bestand der Fauna, der Küste, auf Luft und Klima wurden quantitativ nicht überprüft", so Tolunay.

Zum Projekt gehört auch die Planung von neuen Wohnungseinheiten. Laut CEP-Bericht soll entlang des Kanals Wohnraum für ungefähr 1,2 Millionen Menschen entstehen. Bauunternehmern soll dafür 83 Quadratkilometer an Fläche zur Verfügung gestellt werden.

Zerstörtes Haus nach Tanker-Unfall (2018). (Foto: picture-alliance/AA/M. M. G. Gur)
Verkehr auf dem Bosporus zu gefährlich? In seiner Rede bei der Grundsteinlegung für die Brücke sagte der türkische Präsident Erdogan mit Blick auf die vielen Schiffsunglücke im Bosporus, der neue Kanal solle vor allem die "Sicherheit" der Bewohner Istanbuls gewährleisten. Er sei unter anderem notwendig, weil der Schiffsverkehr auf dem Bosporus kontinuierlich zunehme. Nach einer Statistik der Direktion für Küstensicherheit nimmt die Anzahl der Schiffe seit einigen Jahren ab, ihre Größe und ihr Gewicht nehmen insgesamt zu.

Projekt gegen die Krise im Land

Für Umweltingenieur Güney geht es bei dem Kanal hauptsächlich um den Profit für Investoren. "Durch das Bauprojekt kann ein Gewinn von 800 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet werden", schätzt er. Dies werde aber nur hochqualifizierten Bevölkerungsschichten zu Gute kommen. "Die Arbeiterklasse wird aus dieser Gegend vertrieben. Zusätzlich werden Tiere aus ihren Lebensräumen verjagt."

Ein weiterer Streitpunkt sind die hohen Baukosten: Offiziell ist von umgerechnet bis zu 11,5 Milliarden Euro die Rede. Doch Experten rechnen für den neuen Kanal mit wesentlich höheren Ausgaben. Das Projekt werde "auf dem Rücken der Steuerzahler" ausgetragen, lautet daher die Kritik der Istanbuler Stadtverwaltung, in der die türkische Opposition das Sagen hat.

Die Opposition sieht in dem Mega-Projekt den grundsätzlichen Versuch der Regierung in Ankara, ein baugetriebenes Wachstumsmodell und die Nachfrage nach billigen Krediten aufrechtzuerhalten - als Mittel zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Krise im Land.

 

 

Weitere Kosten und Gefahren - und Gestank

Die Kritik kommt nicht nur aus der Opposition. "Sicher wird eine zusätzliche Durchfahrtsmöglichkeit dem Handel und der Wirtschaft einen Vorteil bringen, keine Frage", sagt Fikret Adaman, Ökonom an der Istanbuler Bogazici-Universität. "Aber das wird soziale und ökologische Kosten auslösen, die einfach zu hoch sind."

Vor diesen Kosten warnt auch Nihan Temiz Atas von Greenpeace. "Experten sagen, das Wasser aus dem Schwarzen Meer werde durch den Kanal verstärkt in das Marmarameer fließen" und das Ökosystem dort zerstören. Der Sauerstoffgehalt in dem Gewässer nehme ab, "sobald der Sauerstoff aufgebraucht ist, gibt es kein Zurück". Das Binnenmeer kippt um. Die Konsequenz: "Als Folge davon wird Istanbul bei einem Südwestwind einem Geruch von faulen Eiern ausgesetzt sein." 

Das Marmarameer ist derzeit ohnehin stark belastet. Fernsehsender zeigen regelmäßig Bilder einer unter anderem durch schlechte Abwasserverarbeitung und steigende Temperaturen verursachten Schleimplage. Die bedroht nicht nur Fischer, die in den betroffenen Gebieten nicht fischen können, sondern auch das Leben im Meer. 

Daniel Derya Bellut, Serkan Ocak

© Deutsche Welle 2021

Dieser Beitrag vom Mai wurde am 26.06.2021 mit Agenturen (dpa) aktualisiert.