Über musikalische Barrieren hinweg
Auf den ersten Blick scheint es, dass ein Sufi-Mystiker des 13. Jahrhunderts mit einer norwegischen Jazzband des 21. Jahrhunderts wenig gemeinsam hat. Hört man aber "Rumi Songs", die neuste Veröffentlichung der Gruppe um Trygve Seim, muss man anerkennen, dass es durchaus Übereinstimmungen gibt, denn durch diese Interpretationen werden die Worte des berühmten persischen Dichters auf eine Weise lebendig, wie sie bislang von nur wenigen überhaupt in Betracht gezogen wurde.
Die Gedichte von Jalal ad-Din Muhammad Rumi, dem islamischen Sufi-Poeten und Mystiker aus dem 13. Jahrhundert, sind in Nordamerika inzwischen so berühmt, dass seine Werke heute als die am meisten verkauften Gedichtbände in den Vereinigten Staaten gelten. Allerdings scheinen die meisten seiner neuen Leser die Beschreibungen der Liebe in seinen Gedichten nicht zu hinterfragen und daher nicht zu verstehen, dass die Liebe, auf die Rumi hinweist, als Analogie für seine Liebe zu Gott zu betrachten ist. Diese Gedichte sind zutiefst spirituell und dazu gedacht, ihre Leser zu einer tieferen Beziehung zu Gott zu führen.
Ein Teil des Problems ist, dass die englischen Übersetzungen der in Nordamerika beliebtesten Werke Rumis von Coleman Barks stammen, einem amerikanischen Dichter ohne Farsi-Kenntnisse. In der Tat kann dessen Arbeit eigentlich kaum als Übersetzung betrachtet werden, sondern eher als Interpretation und Umformulierung der Übersetzungen anderer, die er dann frei in Verse setzt. Mit Ausnahme von "Seeing Double", das aus der Übersetzung der Wissenschaftler Camille und Kabir Helminski übernommen wurde, sind es diese Versionen der Gedichte, die Seim als Grundlage für seine neue Veröffentlichung verwendet.
Nachspüren von Rumis Inspiration
Glücklicherweise ermöglicht das Jazz-Genre dem Künstler gewöhnlich, über bloße Worte hinauszugehen und die tieferen thematischen Elemente eines Werkes zu erforschen. Daher kann, auch wenn die eigentliche Botschaft Rumis durch die Verse vielleicht nicht vermittelt wird, diese Einschränkung durch die Interpretation transzendiert werden. Durch die Kargheit der Musik (neben der Sängerin Tora Augestad besteht die Formation aus Frode Haltli am Akkordeon, Svante Henryson am Violoncello und Seim am Tenor- und Sopransaxophon) und die Prägnanz des Gesangs von Augestad werden die Texte von einem Großteil ihrer wörtlichen Bedeutung befreit. Dies lenkt die Aufmerksamkeit der Zuhörer darauf, was Rumi ursprünglich dazu inspiriert haben mag, seine Gedichte zu schreiben.
Wenn man das Album hört, ist es zunächst schwer, sich von den fast dissonanten Klängen der Musik nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Insbesondere "In Your Beauty", das erste Stück, könnte für manch einen sehr schwierig sein. Und zugegebenermaßen hatte auch ich nach meinen bisherigen Erfahrungen mit musikalischen Vertonungen der Werke Rumis eine gewisse Opulenz oder Eleganz erwartet. Dieses Lied hingegen beginnt mit einem langen, gedehnten Ton, der auf einem Akkordeon gespielt wird – dermaßen intensiv, sodass es schon fast störend wirkt.
Doch genau an dem Punkt, an dem dieser Ton die Schwelle zur Unerträglichkeit erreicht, entwickelt sich das Lied weiter. Seim weiß genau, wie sehr er uns musikalisch fordern kann, ohne zu weit zu gehen. Seine Musik ist fremdartig und seltsam, da uns Rumis Gedichte an Orte führen, mit denen wir nicht vertraut sind – eine spirituelle Landschaft jenseits unseres normalen Verständnisses. Wir müssen zulassen, dass die Musik Barrieren durchbricht, die wir gegenüber dem Neuen und Anderen errichtet haben.
Fremdartig und mysteriös
Die von Seim komponierte freie Form des Jazz und seine Auswahl scheinbar unvereinbarer Instrumente funktionieren in diesem Zusammenhang perfekt. Es scheint, als habe er eine sehr bewusste Entscheidung getroffen, im oberen Bereich der tonalen Skala zu arbeiten, um zu verhindern, dass wir uns auf der Musik und ihrem Inhalt zu sehr ausruhen. Es ist, als wolle er uns zwingen, darüber nachzudenken, warum Rumi seine Gedichte geschrieben hat und was dies für ein Mann ist, der solche unglaublichen Oden an seinen Schöpfer geschaffen hat.
Noch interessanter ist die Beobachtung, wie sich das Quartett über die gesamte musikalische Bandbreite bewegt. In jedem der Stücke kann man Einflüsse aus unterschiedlichen Teilen der Welt hören. "Seeing Double" beispielsweise enthält Elemente des Tango, und in "Leaving My Self" erklingen Echos der klassischen Musik Indiens. Auch wenn sich vielleicht mancher Hörer von einer solchen musikalischen Wanderlust abgeschreckt fühlen mag: Sobald man sich an diese sehr verfeinerte Atmosphäre gewöhnt, stellt man fest, wie bemerkenswert passend sie doch ist.
Rumis Gedichte sind in aller Welt verbreitet und haben unzählige Millionen von Menschen inspiriert. Diese im Rahmen einer Musik zu hören, die aus einer Vielzahl von Kulturen und Hintergründen stammt, verstärkt nur den Eindruck, in welchen Maße seine Arbeit über seine ursprüngliche Zuhörerschaft hinausgegangen ist und zum Teil des menschlichen Kanons wurde. Indem Seim sich den Rat Rumis in "Like Every Other Day" – "Öffne nicht die Türen zum Arbeitszimmer, um anzufangen zu lesen/Nimm dir ein Musikinstrument/Lass die Schönheit, die wir lieben, das sein, was wir tun" – zu Herzen nimmt, findet er neue und aufregende Wege, diese Gedichte zum Leben zu erwecken.
Anklänge an zeitgenössische Kompositionen
Eines der Schlüsselelemente für die Darbietung der Gedichte ist Augestads Stimme. Als Sängerin in einer derart minimalistischen Gruppe muss sie einen Weg zur Interpretation der Texte finden, der sowohl zur Musik als auch zu den von ihr verkörperten Themen passt. Mit ihrem umfassenden stilistischen Hintergrund, der von den Werken Brechts und Weils bis hin zu den zeitgenössischen Kompositionen von Cage und Schönberg reicht, verfügt sie über die Fähigkeiten und die Erfahrung, dies wunderbar zu verwirklichen.
Ihre Mezzosopran-Stimme schwebt ätherisch über den begleitenden Instrumenten und trägt dazu bei, dass sich die Musik in den beinahe sublimen Bereich erhebt, der für Rumis Werke angemessen ist. Gleichzeitig sorgt sie, während ihre Stimme im Laufe des Albums unerwartete Drehungen und Wendungen erfährt, dafür, dass unsere Füße fest auf dem Boden bleiben. Es ist, als würde sie die Tonleiter nach oben steigen, während wir einen Abstieg erwarten, und umgekehrt. So wie alles andere auf dieser Aufnahme ist dieser Ansatz zunächst befremdlich, macht allerdings auch Sinn, je mehr man ihm zuhört.
Von der üblichen ehrfürchtigen Behandlung, die den Werken des berühmten Sufi-Poeten normalerweise entgegengebracht wird, weichen die "Rumi Songs" von Trygve Seim deutlich ab. Tatsächlich gibt es bestimmt Menschen, die ihren Kopf und ihr Herz für diese musikalische Darstellung nicht begeistern können. Wenn man aber bereit ist, mit offenem Verstand und weitem Herzen zuzuhören, wird man von den Stücken auf diesem Album sowohl emotional erfüllt sein als auch zum Nachdenken angeregt werden.
Seim hat den Geist und den Charakter dieser Texte so eingefangen, dass sich unsere Einstellung gegenüber ihnen verändern mag. Er hat ein brillantes Werk geschaffen, das die Bemühungen, die nötig sind, um es angemessen zu würdigen, allemal wert ist.
Richard Marcus
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff