"Männer und Frauen sind im Islam gleichberechtigt“
In den 1980er Jahren, auf dem Höhepunkt der zweiten feministischen Welle in den USA, wurde die Gender-Perspektive in der wissenschaftlichen Community zu einem neuen Ansatz, um Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu analysieren. Exakt zu dieser Zeit begann Amina Wadud auf einem Gebiet zu forschen, das in der Forschung noch kaum bearbeitet war: Dem Thema Gleichberechtigung der Geschlechter im Islam.
Wadud kombiniert Verfahren der modernen Exegese mit der Gender-Perspektive und erforscht die Beziehung zwischen Männern und Frauen in den islamischen Schriften. Dabei belegt sie, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein Grundsatz des Koran ist.
Ihre theoretischen Überlegungen und ihr Engagement als Aktivistin machen die Autorin international zur Leitfigur des muslimischen Feminismus und zu einer prägenden muslimischen Intellektuellen unserer Zeit, die den Koran aus einer feministischen Perspektive auslegt. Eine wortwörtliches Verständnis des Koran lehnt sie ab und erklärt, für Feminismus und gleichzeitig für den Glauben zu stehen.
Amina Wadud fordert die vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter, sowohl in der Familie als auch in der Gesellschaft, und sieht sich damit im Einklang mit der Botschaft des Koran. Dagegen steht das Patriarchat ihrer Auffassung nach im Widerspruch zum Islam.
Feministische Auslegung des Islam
Für ihren Korankommentar aus weiblicher Perspektive wählt Amina Wadud einen hermeneutischen Ansatz. Ihrer Methodik liegen drei Prinzipien zugrunde: Sie sieht den Leser als Subjekt, die Schriften werden aus einer historischen Perspektive analysiert und ihre Auslegung resultiert aus der Gender-Perspektive.
Wadud hebt hervor, dass der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Laufe der jahrhundertelangen Auslegungsgeschichte verblasst ist oder sogar aus den Kommentaren getilgt wurde. Sie fordert uns auf, die Offenbarung in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu verstehen und in unserer postmodernen Zeit neu zu verorten. Mit ihrer auf Gleichberechtigung zielenden Koranexegese widerspricht sie den traditionellen Auslegungen und hat mit ihrem Ansatz unter Muslimen weltweit eine lebhafte Debatte entfacht.
Da sich der Islam ständig weiterentwickle, müsse er auch am postmodernen Denken teilhaben, meint Wadud. Durch das Bemühen um eine eigenständige Auslegung des Koran (Idschtihād) werde die muslimische Religion ihre Dynamik zurückgewinnen.
Die feministische Islamwissenschaftlerin spricht von einer "radikalen Reform“ im Islam. Sie fordert ein "dynamisches Verständnis des islamischen Rechtssystems“ – der Scharia, denn die ursprüngliche Offenbarung sei in einen zutiefst patriarchalen Kontext eingebettet gewesen.
Nach Überzeugung von Amina Wadud lässt die Universalität des Korans diesen Ansatz zu. Ihrer Auffassung nach würde eine Ungleichheit von Männern und Frauen schon aufgrund der "Lehre von der Einheit Gottes“ im Widerspruch zur Botschaft des Islam stehen.
Wadud verweist auf zahlreiche Koranverse, die eindeutig auf die Idee der Geschlechtergleichheit anspielen würden. So erlaube beispielsweise Sure 4, 3 zwar einem Mann, bis zu vier Frauen zu heiraten. Der Vers betont aber auch den Kontext der Offenbarung und unterstreicht, es sei wichtig, alle Ehefrauen gleich zu behandeln. Da dies allerdings in der Praxis kaum möglich ist, empfehle der Koran nach Wadud die Monogamie.
Amina Waduds erstes Buch fand sowohl bei muslimischen Frauenorganisationen als auch in der akademischen Welt große Beachtung. Ihr Anliegen, den religiösen Textkorpus aus einer Perspektive der Gleichberechtigung neu zu lesen, hat insbesondere denjenigen neue Möglichkeiten eröffnet, die sich mit Frauenrechten einsetzen.
Weibliche Imame im Islam
Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde Amina Wadud im Jahr 2005, als sie vor einer hundertköpfigen, gemischten Gemeinschaft das Freitagsgebet in einer anglikanischen Kirche im New Yorker Stadtteil Manhattan leitete. Sie warf damit die grundsätzliche Frage nach Frauen als Imaminnen auf: Dürfen Frauen das gemeinsame Gebet von Männern und Frauen anleiten? Ihre Aktion löste einen Sturm der Entrüstung aus. Wadud wurde zur Zielscheibe der Kritik von Muslimen aus aller Welt. Es zeigte sich, wie "konservativ“ einige religiöse Führer und Islamgelehrte sind, die sich weigern, auf die Forderungen muslimischer Feministinnen einzugehen.
Islamische Massenmedien verbreiteten und verstärkten den Grundtenor von konservativen Islamgelehrten und Traditionalisten aus muslimischen Ländern: Ihnen zufolge könne eine Frau keine gemeinsamen Gebete von Männern und Frauen anleiten. Dessen ungeachtet ist jedoch festzuhalten, dass in der islamischen Theologie kein Konsens über die Auslegung von Koranversen und Hadithen zu diesem Thema besteht.
Die Furcht vor Veränderungen, die auch in der Reaktion auf Waduds Aktion von März 2005 deutlich wird, zeigt im Grunde die Angst vor einer Spaltung in "konservative“ und "liberale“ Muslime. Dass es eine Generation von westlichen Muslimen gibt, die die traditionelle Praxis ihrer Eltern ablehnt, verstärkt diese Sorge noch.
Wadud will "nein“ zu einer Auslegung sagen, die "in einer patriarchalen Lehre gefangen ist“, ohne aber die heiligen Schriften zu verleugnen. "Mit der Weiterentwicklung unserer wissenschaftlichen Disziplinen durch Postmodernismus und Dekonstruktivismus erachten wir es für möglich, uns von einem Text leiten zu lassen, ohne durch seine wortwörtliche Auslegung eingeschränkt zu werden.“
So wie Amina Wadud verstehen viele muslimische Frauen ihr heiliges Buch zunehmend als eine Anleitung zur Befreiung. Sie nutzen die Möglichkeit, ihre Ratio und ihren Intellekt zu schulen, um das vielseitige Universum des Koran zu entschlüsseln.
Malika Hamidi
© Qantara.de 2021
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Amina Wadud, "Qur'an and Woman: Rereading the Sacred Text from a Woman's Perspective". 2. überarbeitete Aufl., Oxford, New York 1999