Kulturboom in Bagdad 

Aus Frust über ihre Politiker kehren junge Iraker der Politik den Rücken und stürzen sich ins Kulturleben. Von Birgit Svensson aus Bagdad 

Von Birgit Svensson

Loay al-Hadary hat eine Botschaft: Das Weltkulturerbe im Süden des Irak trocknet aus, die Sümpfe haben bald kein Wasser mehr. Die Fische sterben und mit ihnen alles Lebende, das über Jahrtausende Mesopotamien geprägt hat. "Ich habe über sumerische Traditionen recherchiert und sie in meinen Installationen nachgebaut“, sagt der bildende Künstler im Beit Tarkib, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst in Bagdad.



Es ist Samstagabend und Vernissage. Al-Hadary erklärt den vielen Besuchern die Dramatik des biblischen Gartens Eden, der zunächst von Ex-Diktator Saddam Hussein bedroht war, als der während des Krieges gegen Iran in den 1980er Jahren die Sümpfe trockenlegte. Nach seinem Sturz 2003 wurde das Gebiet wieder geflutet, das alte Leben kehrte zurück. Doch jetzt führen Euphrat und Tigris immer weniger Wasser und die Sümpfe trocknen erneut aus. Irak gehört zu den fünf Ländern, die weltweit am meisten vom Klimawandel bedroht sind. Hinzu kommt, dass die Türkei und der Iran den Zufluss von Wasser ins Zweistromland durch Dämme behindern. "Es ist eine Tragödie“, sagt der 42-jährige Künstler. 

"Viele Kunstschaffende widmen sich derzeit dem Thema Klimawandel im Irak“, weiß Hella Mewis, Initiatorin des seit 2017 bestehenden Kulturzentrums Beit Tarkib, das sich vor allem jungen Künstlern verbunden fühlt und sie fördert. Die Kulturmanagerin aus Berlin ist zurück in Bagdad, nachdem sie im Juli 2020 gekidnappt worden war und eine Zwangspause in Deutschland einlegte. "Ich bin Bagdaderin“, sagt die 51-Jährige, "ich musste zurückkommen“. Es gäbe derzeit einen regelrechten Kulturboom in Bagdad, da müsse sie dabei sein. 

Kulturzentrum Beit Tarkib in Bagdad; Foto: Birgit Svensson
Im Kulturzentrum Beit Tarkib, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst in Bagdad, hat der bildende Künstler Loay al-Hadary seine Werke ausgestellt. Der Künstler will auf die Folgen des Klimawandels und die austrocknenden Sümpfe im Süden des Irak aufmerksam machen. Bei der Vernissage erklärt er den vielen Besuchern die dramatische Situation des biblischen Gartens Eden. Irak gehört zu den fünf Ländern, die weltweit am meisten vom Klimawandel bedroht sind. Hinzu kommt, dass die Türkei und der Iran den Zufluss von Wasser ins Zweistromland durch Dämme behindern. "Es ist eine Tragödie“, sagt der 42-jährige Künstler. 

"Ich bin Iraker, ich lese"

Derzeit strömen hunderte Irakerinnen und Iraker zu Kulturveranstaltungen, ganz besonders beliebt sind Literaturfestivals. Ein altes Sprichwort über den Nahen Osten bewahrheitet sich dieser Tage in Bagdad mehrfach: "Bücher werden in Kairo geschrieben, in Beirut gedruckt und in Bagdad gelesen.“ Angefangen mit dem Lesefestival an der Tigris-Uferstraße Abu Nawas, über das Poesiefestival auf der Mutanabbi-Straße, bis hin zur Buchmesse auf dem Messegelände im Stadtteil Mansour: Überall ist es voll, überall wird gelesen und diskutiert, überall wird gefeiert.  

Das Lesefestival "Ich bin Iraker, ich lese", fand nun schon zum neunten Mal statt. Noch nie waren so viele Menschen gekommen wie dieses Mal, vor allem Junge, unter 25 Jahren, die mittlerweile 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Eine Zeitlang war das nicht so. Die Iraker waren mit Krieg und Terror beschäftigt. Doch jetzt, fünf Jahre nach dem Ende des IS im Land besinnen sich die Menschen wieder auf diese Tradition - und lesen.

Dabei werden die Bücher aber anders als im Sprichwort nicht mehr nur in Kairo geschrieben. Auch im Irak selbst entsteht viel neue Literatur. Das Erlebte wird verarbeitet, die Traumata der Vergangenheit finden ein Ventil auf Papier. Neue Formen der Literatur werden ausprobiert, eine Mischung aus Lyrik und Prosa ist derzeit "in“ am Tigris.



Auch hier sind es die Jungen, Nachwuchsschriftstellerinnen und -schriftsteller, die Zeichen setzen und ihre Experimentierfreude zum Ausdruck bringen. Organisiert wird das jährlich stattfindende Lesefest, bei dem auch viele kostenlose Bücher zu haben sind, Autorinnen und Autoren ihre Werke signieren und traditionelle irakische Musik das Treiben begleitet, von Amer Mudjeid, einem jungen Mann Anfang 30. Unterschiedliche Sponsoren helfen ihm dabei. Der Ort des Lesefestivals am Tigrisufer ist mit Bedacht gewählt. Dort steht eine Scheherazade aus Bronze, eine der Hauptfiguren aus 1001 Nacht

Kulturmanagerin Hella Mewis; Foto: Birgit Svensson
Hella Mewis, gebürtige Ostberlinerin und ausgebildete Theatermanagerin, kam 2013 für ein Projekt des Goethe-Instituts zum ersten Mal nach Bagdad und entschied sich zu bleiben. Sie gründete das Kulturzentrum Tarkib und unterstützte junge Künstler in ihrer Arbeit. Die Kulturmanagerin aus Berlin ist zurück in Bagdad, nachdem sie im Juli 2020 gekidnappt worden war und eine Zwangspause in Deutschland einlegte. "Ich bin Bagdaderin“, sagt die 51-Jährige, "ich musste zurückkommen“. Es gäbe derzeit einen regelrechten Kulturboom in Bagdad, da müsse sie dabei sein. 

Flucht in die Kultur 

Vor vier Jahren sind junge Iraker wie Amer und die jungen Künstler vom Beit Tarkib massenhaft auf die Straße gegangen, haben über ein Jahr lang eine Zeltstadt am Tahrir Platz im Herzen von Bagdad unterhalten, die Regierung gestürzt, ein neues Wahlgesetz gefordert und vorgezogene Neuwahlen durchgesetzt. Die Aufbruchstimmung war ansteckend. Es roch nach Revolution. Doch dann kamen die Scharfschützen, die Milizen, der Geheimdienst und schließlich die Pandemie.

Über 600 Demonstranten sind getötet worden, viele weitere wurden verfolgt und bedroht, einige verschwanden für immer. Hella Mewis geriet in Geiselhaft, weil auch sie für eine bessere Zukunft im Irak auf die Straße ging. Die Bewegung erstickte. Ein Jahr lang befand sich das Land in einer schweren politischen Krise.



Nachdem die neu gewählten Abgeordneten sich weder auf einen Kandidaten für das Präsidentenamt noch auf einen für das Amt des Premierministers einigen konnten, entbrannte ein bedrohlicher Machtkampf im Vielvölkerstaat. Beobachter befürchteten einen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen, wie es ihn schon einmal in den Jahren 2006 und 2007 gab. Im letzten Moment konnte dies noch verhindert werden. Seit Oktober hat der Irak nun eine neue Regierung, allerdings mit den alten Gesichtern. 

Jeden Freitag wird die Mutanabbi-Straße im alten Zentrum Bagdads zum Treffpunkt der Kultur- und Künstlerszene. Mutanabbi, einer der wichtigsten Poeten der arabischen Welt ( 915 oder 917-965) hat der Straße seinen Namen gegeben und steht selbst als Denkmal an ihrem Anfang. Ab 10 Uhr morgens bis der Muezzin gegen Mittag zum Freitagsgebet ruft, trifft sich dort alles, was Rang und Namen in Sachen Kultur und Kunst hat.

Eigentlich eine Büchermeile, auf der jeder seine Bücher verkaufen kann, wie er will, ist die Mutanabbi-Straße längst zum Inbegriff der Kreativszene geworden. Im Kaffeehaus Shabander treffen Verleger und Autoren aufeinander, Musiker und Filmemacher, Bildhauer und Maler. Freitags auf der Mutanabbi ist eine Institution, die weit ins ganze Land strahlt.



Eine alte Karawanserei, von der Stadtverwaltung liebevoll restauriert, bietet als Kulturzentrum Räume für Veranstaltungen und Ausstellungen. Im Innenhof, in dem einst Kamele Ruhe und Wasser fanden, kann man handgearbeiteten Schmuck, kleine Kunstwerke oder Souvenirs kaufen. Manchmal finden auf der Bühne in der restaurierten Karawanserei Lesungen statt, so wie beim europäisch-irakischen Poesiefestival Anfang Dezember.  

Freitags auf der Mutanabbi 

Die Al-Mutanabbi zählt zu den ältesten und bekanntesten Straßen der irakischen Hauptstadt und galt stets als ein Seismograph für den Zustand des Landes. In den 1950er Jahren wurden hauptsächlich marxistische Schriften angeboten, dann wurden sie von nationalistisch-panarabischen Werken ersetzt und danach von Verherrlichungen Saddam Husseins.

Die Mutanabbi-Straße in Bagdad; Foto: Birgit Svensson
Die Al-Mutanabbi zählt zu den ältesten und bekanntesten Straßen Bagdads und galt stets als ein Seismograph für den Zustand des Landes. In den 1950er Jahren wurden hauptsächlich marxistische Schriften angeboten, dann wurden sie von nationalistisch-panarabischen Werken ersetzt und danach von Verherrlichungen Saddam Husseins. Nach seinem Sturz fand man eine kurze Zeit alles, was gedruckt und finanziert werden konnte. Da lag der Koran neben pornographischen Heften und Hitlers "Mein Kampf“ in der arabischen Übersetzung. Das änderte sich schnell, als ab 2005 die religiösen Hardliner die Macht im von den Amerikanern besetzten Irak übernahmen. Nacktheit wurde zum Tabu, religiöse Schriften waren das Gebot der Stunde.



Nach seinem Sturz fand man eine kurze Zeit alles, was gedruckt und finanziert werden konnte. Da lag der Koran, schön gebunden und mit Goldrand verziert, neben pornographischen Heften wie dem Playboy, Hitlers "Mein Kampf“ in der arabischen Übersetzung und George Washingtons Memoiren, die halb-nackte Pop-Ikone Madonna neben der zugeknöpften ägyptischen Sängerin Umm Kulthum. Das änderte sich schnell, als ab 2005 die religiösen Hardliner die Macht im von den Amerikanern besetzten Irak übernahmen.



Nacktheit wurde zum Tabu, religiöse Schriften waren das Gebot der Stunde. Am 5. März 2007 explodierte in der Mutanabbi-Straße eine Autobombe. 40 Menschen wurden getötet und fast alle Buchläden zerstört. Der Anschlag wurde als ein gezielter Angriff islamistischer Extremisten gegen die als liberal geltende Kulturszene gewertet. Erst nach dem Abschluss der Wiederaufbauarbeiten im Dezember 2018 kehrte das Leben in die Straße zurück. 

Alaa Gaber Alyaseri kommt oft am Freitag zur Mutanabbi, weil sie hier Gleichgesinnte trifft. Sie war eine von vielen Tausenden, die 2019 und 2020 auf die Straße gegangen sind und ein neues politisches System, eine Mehrheitsregierung gemäß dem Wählerwillen und eine ernstzunehmende Opposition forderten. Jetzt sitzt die 43-Jährige zwar im Parlament, so wie 13 andere aus der Protestbewegung, aber eine schlagkräftige Opposition bilden sie nicht bei insgesamt 329 Abgeordneten.

Denn einer, der das Rad hätte weiterdrehen können, hat sich aus der Politik verabschiedet. Frustriert vom unerbittlichen Machtkampf zwischen Reformern und Bewahrern, hat Schiitenführer Moktada al-Sadr das Handtuch geworfen. Er zog zunächst seine Abgeordneten aus dem Parlament ab und verabschiedete sich schließlich selbst aus der Politik. "Damit hat er unsere Ziele aufgegeben“, sagt Alyaseri. Der Weg wurde frei für die "alte Garde“.  

So bleibt für viele nur noch die Flucht in die Kultur, wo sie ihre Kreativität ausleben können. Der Kulturboom in Bagdad zeugt davon. Ob Literatur, Musik, Bildende Kunst oder Film: Experimente jeglicher Art finden massenhaft Zuhörer, Besucher und Anhänger. Mit Politik möchten die meisten nichts mehr zu tun haben, vorerst jedenfalls.



"Von der neuen, alten Regierung ist nicht viel zu erwarten“, sagen fast alle Befragten am Freitag auf der Mutanabbi. Alaa Gaber Alyaseri, die "Parlamentarierin von der Straße“ wird es schwer haben, in der Volksvertretung etwas zu bewegen. Auch sie hat sich bereits in die Kultur geflüchtet. Alaas unübersehbare Fingernägel sind wunderbare Kunstwerke. 

Birgit Svensson

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