Orangensaft als Kunstobjekt

Anspruchsvolle Kunst und gesellschaftspolitisches Engagement sind kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Diese Überzeugung vertritt das Künstlerkollektiv "La Source du Lion" in Casablanca.

Von Martina Sabra

​​Ein heißer Sommernachmittag im Hermitage-Park von Casablanca. Vor der Sonne geschützt durch meterhohe Palmen und Eukalyptusbäume befindet sich an einem Ende der Grünanlage ein rechteckiges kleines Gebäude, dessen Türen weit geöffnet sind: die Jugendkunstschule der Künstlergruppe "La Source du Lion", zu Deutsch "die Quelle des Löwen".

Der 14-jährige Gymnasiast Soufian versucht sich an einem Aquarell mit grünen Lilien. Werkstatt-Koordinator Tarek Fayed gibt ihm Tipps für die richtige Perspektive.

Die kostenlosen Sommer-Kunstkurse für Jugendliche wirken banal, doch sie sind es nicht. Bis vor kurzem war der traditionsreiche Hermitage-Park eine der größten Müllkippen Casablancas. "Eine No-Go-Area", erzählt die Architektin Nadia Jebrou, Mitglied von "La Source du Lion".

Dass die Menschen aus den umliegenden Unterschichtwohnvierteln den Park heute wieder nutzen können, ist maßgeblich dem Künstlerkollektiv zu verdanken. Die Gruppe setzte mit Hilfe öffentlichkeitswirksamer Kunstaktionen nicht nur durch, dass die Existenz des Parks gerettet wurde; sie kämpfte auch erfolgreich für seine Instandsetzung und dafür, dass die Anwohner am Prozess beteiligt wurden.

Das Projekt läuft so gut, dass die Stadtverwaltung nun auch andere Parks in Casablanca auf ähnliche Weise rehabilitieren will.

Kommunikation als Kunst

Gegründert wurde "La Source du Lion" von den Künstlern Hassan Darsi, Rachid L'Moudenne und Mohammed Fariji gemeinsam mit Kollegen im Jahr 1995, als sie ein längeres Projekt im Casablancaer Stadtteil Ain Sbaa (Löwenquelle) durchführten.

Zum erweiterten Kollektiv zählen heute rund zwei Dutzend Künstler und Kunstinteressierte in ganz Marokko. Maler und Bildhauer sind dabei, Videokünstler, Stadtplaner, Journalisten. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Überzeugung, dass Kunst nicht nur mit Können, sondern auch mit Kommunikation zu tun hat.

"Kunst bedeutet ja nicht nur, interessante Gegenstände zu schaffen, die man anschaut, befühlt, oder mit welchen Sinnen auch immer konsumiert", erklärt die Kunstexpertin und Kuratorin Florence Renault-Darsi, die ebenfalls zum Kollektiv gehört.

"Es geht auch darum, Beziehungen herzustellen und spontane, originelle Interaktionsformen zuzulassen: zwischen den Menschen, der Kunst, der alltäglichen Umgebung. Was die Leute aus diesen Anregungen machen, ist dann nicht mehr unsere Sache. Wir wollen nur Anstöße geben, die Dinge einmal anders zu sehen."

Performances und Mitmachaktionen

Ein wichtiges Instrument dafür sind die so genannten "Passerelles" (Brücken). Die von Symposien begleiteten Performances und Mitmachaktionen begannen 2002 im Hermitage-Park. Sie finden mittlerweile jährlich in verschiedenen Stadtteilen Casablancas statt und sollen auch auf andere Gegenden Marokkos ausgedehnt werden.

Wesentliches Merkmal der "Passerelles" ist die Offenheit der Formen und Inhalte. Im Jahr 2006 beklebte der Künstler Hassan Darsi eine 327 Meter lange Mauer im Hermitage-Park mit 78 Fotografien von Menschen, die er im Laufe eines Tages im Park gesehen hatte.

Hasnaa Sabir von der Kunsthochschule Casablanca stellte in einem Stadtteil Casablancas eine Wahlurne auf, in die die Menschen Gedanken und Anregungen einwerfen konnten. Der Aktionskünstler Mohamed El Baz inszenierte eine Schweigedemonstration mit Jugendlichen.

Der Gast-Künstler Michel Moffarts aus Belgien bot Passanten Becher mit frischem Orangensaft an und verwickelte sie dabei in Reflexionen über die Farbe Orange: "Nicht nur wegen all der politischen Konnotationen, ob in der Ukraine oder im Libanon," erklärt Darsi, "Orange ist einfach eine sehr komplexe Farbe."

In diesem Jahr werden einige Künstlerkollegen aus Europa demonstrativ per Schiff anreisen, vom französischen Sète nach Tanger, um das Thema Migration auf die Agenda zu setzen.

Ein Künstlerhaus

Hassan Darsi arbeitet derzeit an einer Audio-Collage über die marokkanische Parlamentswahl im September 2007, eine Art virtuelle "Räte"-Republik, die im Internet und als Buch veröffentlicht wird. Als politischer Künstler will er deshalb jedoch nicht gelten.

"Für mich ist die Eigenständigkeit der Kunst elementar", sagt Hassan Darsi. "Ich habe kein Interesse, den Menschen eine bestimmte Sicht auf die Welt zu vermitteln. Mir geht es eher darum, Menschen zu zeigen, dass man die Welt auch anders anschauen kann, und dass es Dinge gibt, die sie bisher vielleicht nicht gesehen haben."

Um diese Eigenständigkeit bewahren zu können, brauchen Künstler allerdings Freiheit und Orte, an denen sie ungestört arbeiten und kommunizieren können. "La Source du Lion" will deshalb in Casablanca ein Künstlerhaus gründen, wo marokkanische und internationale Künstler einander begegnen und phasenweise zusammen arbeiten können.

Das entsprechende Haus ist bereits gefunden. Doch die Finanzierung steht noch nicht ganz. "Wir kommen nur allmählich voran, weil wir viele verschiedene Sponsoren haben wollen und nicht einen einzelnen, der uns die Bedingungen diktiert", erklärt Hassan Darsi.

Einen Teil der Summe werden marokkanische und europäische Kollegen im Rahmen der kommenden "Passerelle" im Juli beisteuern: Insgesamt 25 angesehene Künstler haben Werke gespendet, deren Verkaufserlöse direkt in den Kauf des Künstlerhauses von "La Source du Lion" fließen werden.

Martina Sabra

© Qantara.de 2007

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www
La Source du Lion (franz.)