Habt keine Angst vor der Demokratie!
Viele Ägypter gerieten in eine Art Panik, als der Sieg des Kandidaten der Muslimbrüder nach der Präsidentenwahl verkündet wurde. Menschenrechtsaktivisten und Vertreter von Minderheiten gaben ihrer Sorge Ausdruck, dass eben jene allgemeinen Freiheiten, für die so viele Ägypter jahrelang gekämpft hatten, bald wieder eingeschränkt würden. Ihre Angst ist groß, dass der Staat sich in das Privatleben der Bürger einmischen und politische Rechte einschränken könnte.
Viele verwiesen darauf, was in Afghanistan, Algerien und Sudan geschehen ist, als dort Islamisten an die Macht gekommen waren und wie sich Pakistan entwickelt hat, seit dort ein islamisch-militärisches Bündnis regiert. Auch zahlreiche ägyptische Medien nährten diese Ängste, während Fernsehsender und Zeitungen, die den Muslimbrüdern nahestehen, versuchten, die Ägypter zu beruhigen.
Ich selbst habe die Muslimbrüder nie gewählt, weder bei den Parlaments- noch bei den Präsidentschaftswahlen. Ich bin auch nicht der Meinung, dass diese in der Lage sind, das moderne Ägypten aufzubauen, das wir alle uns wünschen – ein Ägypten, dessen Bürger gleichberechtigt sind, in dem niemand auf Grund seines Geschlechts, seiner Ethnie oder seiner Religion diskriminiert wird, ein Land der Freiheit, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit. Für dieses Ziel haben während unserer Revolution Hunderte ihr Leben gelassen.
Wahl des "kleineren Übels"
Aber ich bin anderer Meinung als die Verängstigten. Ich bin nicht der Meinung, dass Ägypten einer gewaltigen Katastrophe entgegen geht, weil die Muslimbrüder das Präsidentenamt gewonnen haben. Im Gegenteil: Millionen von Ägyptern haben nur für Mursi gestimmt, um die Gefahr einer Rückkehr des Systems Mubarak abzuwehren, das der Gegenkandidat Ahmed Shafik repräsentierte. "Ich habe nicht für Mursi, sondern gegen Shafik gestimmt", drückte es ein Freund von mir aus.
Aber das ist nicht das Ende der Geschichte, vielmehr beginnt damit in Ägypten erst die wirkliche Demokratie. Die Ägypter haben all jenen eine Niederlage bereitet, die für das Mubarak-Regime standen, und zwar sowohl bei den Parlaments- als auch bei den Präsidentschaftswahlen. Damit sind Mubaraks Getreue endgültig aus dem Spiel genommen worden, nachdem Millionen von Ägyptern ihren Präsidenten durch eine Revolution aus dem Amt gejagt hatten.
Auch wenn viele um den zivilen und demokratischen Charakter des ägyptischen Staates fürchten – eine Angst, die auch ich nachvollziehen kann – so habe ich doch insgesamt keine Angst um ein Land, dessen Bürger zu Millionen Freiheit gefordert haben und die mehrheitlich bereit waren, dafür zu sterben.
Wer einmal für die Freiheit gekämpft hat, der lässt sie sich von niemandem mehr nehmen, wer einmal für Gleichberechtigung gekämpft hat, dem kann sie niemand mehr vorenthalten, und wer soziale Gerechtigkeit eingefordert hat, der wird nicht ruhen, ehe er sie erlangt. Und wer ein Regime niedergerungen hat, das ihm seine Rechte vorenthalten hat, der wird auch jeden anderen bezwingen, der versucht, sich der Moderne entgegenzustellen.
Dies gilt umso mehr, als die Mehrheit jener, die für den neuen Präsidenten gestimmt haben, Mursi keinen Gefallen tun wollten, sondern weil sie eine andere Gefahr abwehren wollten, die sie für ihr Land als die größere erachteten.
Fundamentaler Gesinnungswandel
Ich sorge mich nicht um den angeblich enormen Machtzuwachs für den neuen Präsidenten und die Gefahr der Einschränkung von Freiheitsrechte. Noch vor eineinhalb Jahren wurde Ägypten von einem Präsidenten regiert, der ganze Apparate und Institutionen besaß, dem eine riesige Repressionsmaschinerie unterstand, der Meinungsforschungsinstitute, eine Polizei, eine Staatssicherheitsbehörde, Eingreiftruppen, Geheimdienste und eine Armee hatte, nebst einer Partei mit drei Millionen Mitgliedern, die das Parlament komplett dominierte und die von Geschäftsleuten ebenso unterstützt wurde wie von Großmächten. Diesen Präsidenten stürzten die Ägypter innerhalb von 18 Tagen, sein System nach eineinhalb Jahren.
Die Ägypter entschieden sich für den Kandidaten der Muslimbrüder, um das System Mubarak endgültig zu beseitigen. Heute kann man tatsächlich von einer Revolution sprechen, denn das Machtgefüge hat sich nun wirklich verändert. Und wenn wir den Weg der Demokratie gewählt haben, heißt das, dass wir Wahlergebnisse akzeptieren. Aber wir können auch selbst überprüfen, ob wir richtig gewählt haben. Wenn die Muslimbrüder ihre Versprechen halten, werden die Ägypter sie wiederwählen, wenn sie es nicht schaffen, wird die Demokratie sie abstrafen, indem die Ägypter nicht noch einmal für sie stimmen werden.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die Muslimbrüder in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen bereits 20 Prozent gegenüber ihrem Ergebnis bei den Parlamentswahlen eingebüßt hatten – das Resultat ihrer bislang enttäuschenden parlamentarischen Leistung. Wer also der Meinung ist, dass die Muslimbrüder die Forderungen der Revolution nicht erfüllen, der sollte dann auch davon ausgehen, dass sie nicht lange regieren werden, egal mit welchen Mitteln sie Einfluss auf die Bürger nehmen, wie gut sie organisiert sind und wie viel Geld sie zur Verfügung haben.
Ich erwarte von meinen Mitstreitern nicht, dass sie der Führung der Muslimbrüder vertrauen. Ich weiß nur zu gut, wie sehr sie uns während der vergangenen Monate in den Rücken gefallen sind. Aber ich erwarte, dass wir Vertrauen in uns selbst haben. In unsere Fähigkeit, in Ägypten etwas zu verändern und Tyrannen zu stürzen. Darin, dass wir eine dritte Kraft aufbauen können – eine Kraft, die ein modernes Ägypten ohne Militärherrschaft und ohne Tyrannei und Ungleichheit aufbaut.
Unser Zug der Freiheit hat sich schon in Bewegung gesetzt, sein Ziel ist ein moderner Staat auf der Basis von Freiheit, Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Und niemand wird es schaffen, ihn aufzuhalten. Habt Vertrauen in euch selbst und glaubt an eure Fähigkeit, eure Träume zu verwirklichen!
Ziad al-Alimi
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Aus dem Arabischen von Günther Orth
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de