Ein Land am Scheideweg
Herr Barroso, nur drei Monate waren seit der Jasmin-Revolution in Tunesien vom Januar 2011 vergangen, da setzte bereits Ihre Maschine auf der Landebahn des internationalen Flughafens Tunis-Carthage auf.
Sie waren gekommen, um die Tunesier zu ihrer erfolgreichen Revolution für Freiheit und Würde zu beglückwünschen. Ihr Büro in Tunis gab damals eine von Ihnen unterzeichnete Erklärung heraus, in der Sie Tunesien als "Speerspitze der Freiheits- und Demokratiebewegung in der arabischen Welt" bezeichneten. Es sei die "Pflicht der Europäischen Union, diese historischen Veränderungen zu unterstützen".
Seitdem haben Sie anderen Projekten, die in Ihren Verantwortungsbereich als oberster Repräsentant des weltweit wichtigsten Staatenbündnisses fallen, Ihre Aufmerksamkeit geschenkt, während Tunesien damit beschäftigt war, seine inneren Wunden zu heilen, die ihm ein unterdrückerisches und korruptes Regime zugefügt hatte.
Eine drohende Diktatur mit neuem Antlitz
Mittlerweile sind fast drei Jahre seit dem Sturz des früheren Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali vergangen. Ein Zeitraum, von dem wir annahmen, er würde ausreichen, um die Grundpfeiler für einen wirklich demokratischen Staat zu legen, mit Pluralismus und Diversität als dessen Hauptmerkmale. Was wir jedoch derzeit erleben, gibt ernsthaft Anlass zu der Sorge, das Land könnte wieder unter das Joch einer Diktatur mit neuem Antlitz geraten.
Denn obwohl Tunesien die meisten internationalen Menschenrechtskonventionen unterzeichnet hat und dadurch – zumindest moralisch, solange noch keine neue Verfassung für das Land ausgearbeitet ist – an diese gebunden ist, so steht doch die Alltagsrealität in deutlichem Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen des Landes.
Das Recht der freien Meinungsäußerung ist nicht von vorübergehender Dauer, es lässt sich nicht beliebig abstellen. In letzter Zeit sind jedoch Menschenrechtsaktivisten, Künstler, unabhängige Journalisten und Oppositionspolitiker in rascher Folge verurteilt worden. Der Grund: Sie hatten es gewagt, in aller Offenheit ihre Meinung zu äußern, weshalb sich in vielen Fällen die örtlichen Autoritäten auf den Schlips getreten fühlten. Dieselben alten Gesetze und Rechtsverordnungen, derer sich schon das vorherige repressive Regime bedient hatte, werden jetzt in abgewandelter Form wieder hervorgeholt, um Leute aufgrund ihrer Meinungsäußerung hinter Gitter zu bringen.
50 Jahre Unterdrückung der Meinungsfreiheit
50 Jahre lang haben wir erlebt, wie Freiheitsrechte unterdrückt und abgewürgt wurden. Dagegen haben wir uns aufgelehnt, in dem festen Glauben, dass die Freiheit der Meinung, des Ausdrucks und des Gewissens zu den unantastbaren Menschenrechten gehören.
Doch was wir nun im "post-revolutionären" Tunesien beobachten müssen, gibt Anlass zu der Befürchtung, dass die Dinge sich auf erschreckende Weise wieder in Richtung Vergangenheit entwickeln.
Wenn heute großspurig behauptet wird, die Tunesier kämen heute in den Genuss kollektiver und individueller Freiheitsrechte – die ja als Haupterrungenschaft der Revolution vom 14. Januar gelten –, so ist das gelinde gesagt übertrieben. Zwar stimmt es, dass jeder ohne Ausnahme sich politisch frei betätigen kann. Und wahr ist auch, dass private und gemeinnützige Vereine ihrer Arbeit ohne Überwachung oder Druck nachgehen können. Selbiges gilt für das Demonstrations- und Versammlungsrecht. All das ist lobenswert. Doch die eigentliche Bedrohung richtet sich mittlerweile gegen die individuellen, persönlichen Freiheiten der tunesischen Bürgerinnen und Bürger.
So üben extremistische religiöse Gruppen erheblichen Druck aus, um die Tunesier mit Gewalt dazu zu bringen, ihre moderate Lebenseinstellung zugunsten einer anderen aufzugeben, die man wohl als mittelalterlich und rückständig bezeichnen kann.
Religiöse Tugendwächter auf dem Vormarsch
Als Beispiel erwähne ich in diesem Zusammenhang eine Organisation namens "Verein zur Befolgung der Tugenden und zur Verhinderung des Lasters" (Al-Amr bil Maarouf wa Nahy an al-Monkar), die eifrig daran arbeitet, diejenigen Tunesier, die einen freien und ungebundenen Lebensstil gewählt haben, in Angst und Schrecken zu versetzen. Und zwar ohne dass die tunesischen Behörden irgendetwas dagegen unternehmen!
Ebenso werden die Imame einiger Moscheen, die ja nach dem Gesetz der Aufsicht durch das Ministerium für religiöse Angelegenheiten unterliegen, nicht müde, die Verhaltensweisen eines großen Teils der Tunesier für unislamisch zu erklären – offenbar in dem Glauben, jene würden im Widerspruch zu den religiösen Lehren stehen.
Zwar mag man dies als eine Form von freier Meinungsäußerung betrachten, doch wenn damit Tendenzen zur Gewaltanwendung und zu Mord- und Totschlag einhergehen, dann muss der Staat gegen solche Exzesse einschreiten. Ebendies passiert allerdings häufig leider nicht.
Für eine unabhängige und neutrale Justiz
Ein wirklicher Rechtsstaat bedarf einer unabhängigen und neutralen Rechtsprechung, was in Tunesien noch Zukunftsmusik zu sein scheint. So macht die Exekutive sich die Justiz nach Belieben gefügig, indem das Justizministerium nicht ablässt von seiner Kontrolle über die Staatsanwaltschaft, und diese bisweilen dazu instrumentalisiert, um manipulierte Verfahren gegen politische Gegner einzuleiten.
Auch die Pressefreiheit verläuft in engen Grenzen und muss gegen Beschneidungsversuche wehren. Innerhalb eines Jahres haben die tunesischen Journalisten zwei Generalstreiks organisiert, um gegen physische Übergriffe auf Journalisten zu protestieren und um ihre Ablehnung der Regierungspolitik zu bekunden, die eine Dominanz über die öffentlichen Medienanstalten zum Ziel hat – mithilfe ihres Monopols bei der Besetzung einschlägiger Führungspositionen.
Wie Ihnen zweifelsohne zu Ohren gekommen sein dürfte, sind terroristische Organisationen im Landesinneren Tunesiens auf dem Vormarsch. Der Terrorismus, der bekanntlich keine geografischen Grenzen kennt, hatte in Tunesien bislang nicht Fuß zu fassen vermocht. Über lange Jahre hinweg hatte das Land im Windschatten dieses gefährlichen Phänomens gelebt – auch wenn ihm einige regierungs- und parteinahe Instanzen mit einer gewissen komplizenhaften Nachlässigkeit begegnet waren.
Deshalb ist es so wichtig, dass die Europäische Union, in ihrer Eigenschaft als "Club der bedeutendsten Demokratien der Welt", auf die Einhaltung der Grundrechte, auf das Prinzip des friedlichen Machtwechsels, auf die Unabhängigkeit der Justiz sowie auf die Bekämpfung der Korruption pocht. Und dies noch bevor sie vollmundig ihre Unterstützung für den demokratischen Übergangsprozess in Tunesien erklärt, der von Haus aus unter besagten Defiziten leidet.
Auch könnten die europäischen Spitzenpolitiker ihre Kontakte zur gegenwärtig regierenden islamistischen Ennahda-Bewegung nutzen, um sie dazu zu bewegen, sich von einer religiösen Partei zu einer säkularen, friedfertigen Partei zu entwickeln, die aufrichtig und ohne Verstellung an demokratische Werte glaubt.
Auch sollten die europäischen Institutionen auf die Menschenrechtsverletzungen in Tunesien, das ja in den Genuss einer privilegierten Partnerschaft mit der Europäischen Union kommt, mit aller Schärfe und Deutlichkeit reagieren.
Beispielsweise muss der junge Tunesier Jaber al-Majri, den Amnesty International als politischen Gefangenen betrachtet, eine hohe Haftstrafe von sieben ein halb Jahren absitzen – einzig und allein aufgrund der Veröffentlichung von Fotos, die aus Sicht der tunesischen Richter eine "Verletzung des Islams und der Sitten" darstellen. Bislang hat kaum ein führender europäischer Politiker auch nur einen Finger gerührt, um seine Freilassung zu erwirken!
Andererseits sind wir uns durchaus darüber im Klaren, dass die tunesisch-europäischen Beziehungen von problematischen Themen wie illegale Einwanderung und Terror überschattet werden, die auch jedem Tunesier Sorge bereiten. Eine Entwicklung hin zu einem ausgewogeneren Verhältnis zwischen beiden Seiten wäre das erfolgversprechendste Rezept, um diese Schwierigkeiten von Grund auf in den Griff zu bekommen.
Doch diese Probleme kann Tunesien, das derzeit so schwere wirtschaftliche und gesellschaftliche Turbulenzen durchmacht, nicht alleine meistern. Es bedarf zusätzlicher Hilfe und Unterstützung, um diesen Weg beschreiten zu können.
Soufiane Chourabi
Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Sofiane Chourabi, 31, ist Autor und Journalist aus Tunesien. Er ist Vorsitzender des Vereins "Politisches Bewusstsein" für politische Bildung und war Preisträger des internationalen Omar-Ourtilane-Preises für Pressefreiheit 2011.