Provokation aus politischem Kalkül
Frau Akyol, wie ist es gerade als Journalistin in Istanbul zu arbeiten?
Çiğdem Akyol: Auch wenn es mir kaum jemand glauben mag, aber tatsächlich hatte ich bisher überhaupt keine Schwierigkeiten mit der türkischen Regierung. Ich habe immer meinen Presseausweis von Ankara erhalten. Zwar mit Verzögerung, aber auch andere deutsche Kollegen mussten lange auf ihre Akkreditierungen warten.
Es ist immer wichtig, zu betonen, und es ist ja auch die Realität, dass Erdoğan demokratisch gewählt wurde. Die Wahlen waren zwar teilweise nicht frei, und fair waren sie ganz sicher nicht - doch der Mann ist kein Diktator. Das heißt, es ist enorm wichtig, sich nicht von populistischen Stimmungen leiten zu lassen und immer noch sachlich an das Thema heranzugehen und fair zu bleiben. Natürlich ist es nicht immer einfach angesichts der politischen Situation, denn auch wir Journalisten sind Menschen. Aber man muss auch die vergangenen positiven Seiten von Erdoğan in der Berichterstattung berücksichtigen, um seine Stärke und seine Verbissenheit heute erklären zu können.
An welche positiven Seiten denken Sie?
Akyol: Er war tatsächlich mal ein Reformer. So hat er unter anderem die Frauenrechte und eine Zeit lang auch die Pressefreiheit ausgeweitet. Er hat die Türkei vor die Tore der EU geführt, er hat eine Mittelschicht erschaffen, die es so vorher nicht gab. Dank Erdoğan wurden die Sozialsysteme verbessert. Das sind natürlich Sachen, die ganz maßgeblich zu seinem Erfolg beigetragen haben. Unter Erdoğan gab es über Jahre hinweg einen wirtschaftlichen Aufstieg, den es so zuvor in der Türkei nicht gegeben hatte. Und all das wird gerne ausgeblendet, weil es nicht in das Weltbild passt, das die deutschsprachige Presse überwiegend von Erdoğan hat. Man hat sich darauf geeinigt, dass er der geborene Despot ist.
Aber was ist von Erdoğan, dem Reformer, übrig geblieben?
Akyol: Da ist nichts mehr von übrig. Wer heute noch behauptet, Erdoğan würde immer noch auf demokratischen Pfaden wandeln oder auch, dass er noch an demokratischen Reformen interessiert sei, der lebt in einer anderen Türkei als ich. Die Türkei, in der ich lebe, ist das Land der Menschen, die Angst haben, die sich fürchten, die die Pässe abgenommen bekommen, die inhaftiert werden, die ihre Jobs verlieren, weil sie regierungskritisch sind.
Unter Präsident Erdoğan wird nicht nur der deutsch-türkische Korrespondent der Zeitung "Die Welt" Deniz Yücel in U-Haft festgehalten, sondern mehrere Dutzend regierungskritische türkische Journalisten sitzen hinter Gittern. Sie haben sich in Ihrer unautorisierten Biografie auch mit Erdoğans Beziehung zur Presse beschäftigt. Wie hat sich diese entwickelt?
Akyol: Das Verhältnis zwischen Erdoğan und der Presse war noch nie gut. Vor allen Dingen die kemalistische Presse, die einst sehr stark war, hat ordentlich gegen Erdoğan ausgeteilt. Und er rächt sich jetzt dafür. Als er von 1994 bis 1998 Bürgermeister von Istanbul war, hat Erdoğan geklagt, dass, egal, was er sagt, dies immer von der kemalistischen Presse gegen ihn verwendet würde. Man hat sich über ihn lustig gemacht, darüber, aus welch ärmlichen Verhältnissen er kommt. Man hat sich über seine Ehefrau und seine Töchter amüsiert, weil diese ein Kopftuch tragen. Tatsächlich gab es keine faire Berichterstattung. Erdoğan selbst hat noch nie das freie Wort geschätzt, musste es aber erdulden. Mit einer gigantischen Säuberungswelle geht er seit dem vereitelten Putschversuch nun gegen alles und jeden vor, der nicht seiner Meinung ist.
Weil Wahlkampfauftritte türkischer Minister in Deutschland abgesagt wurden, sprach der türkische Präsident von "Nazi-Praktiken" in Deutschland. Waren die Nazi-Vergleiche Ihrer Meinung nach ernst gemeint oder lediglich eine Aufmerksamkeitsstrategie?
Akyol: Seine absurden Vorwürfe sind Wahlkampfstrategie. Diese innere Unruhe, die jetzt in Deutschland herrscht, was das deutsch-türkische Verhältnis anbelangt, nützt Erdoğan. Für sein angestrebtes Präsidialsystem fischt er am rechten Rand, er braucht die Stimmen der Nationalisten und deswegen spielt er gerade schon wieder die nationalistische Orgel. Denn je unsachlicher die Bundesregierung, deutsche Politiker und die Öffentlichkeit reagieren, desto mehr profitiert er davon. Und deswegen heizt er so an. Man sollte eigentlich nicht auf diese Masche hereinfallen. Mein Tipp: Sachlich und höflich bleiben und den Finger dennoch ganz selbstverständlich in die Wunde legen.
In welche Wunde sollte man den Finger denn Ihrer Meinung nach gerade am dringendsten legen?
Akyol: Den Abbau der restlichen Demokratie in der Türkei. Berlin und Europa müssen ganz genau hingucken, dass nicht noch mehr Oppositionspolitiker inhaftiert werden, dass nicht noch die wenigen freien, regierungskritischen Journalisten in der Türkei um ihr Leben fürchten müssen, dass nicht der Rechtsstaat weiter ausgehebelt wird, dass die Gewaltenteilung erhalten bleibt.
Wie ist die Lage der Regierungskritiker und der kulturellen Szene gerade in der Türkei?
Akyol: Die Kritiker ziehen sich immer weiter zurück. Zwar gibt es noch Menschen, die auf der Straße dafür demonstrieren, beim Verfassungsreferendum mit "Nein" zu stimmen, aber die werden in der Regel inhaftiert.
Ein großes Thema unter den Kulturschaffenden, unter den Intellektuellen insgesamt, ist die Frage: Wie kann ich das Land verlassen? Gibt es Stipendien? Welche Länder kommen für mich infrage? Denn Hoffnung auf Besserung, die gibt es im Moment nicht, was die demokratischen Entwicklungen in der Türkei anbelangt.
Das Gespräch führte Laura Döing.
© Deutsche Welle 2017
Çiğdem Akyol (38) lebt in Istanbul und arbeitet als Korrespondentin für die österreichische Nachrichtenagentur APA. Sie ist in Deutschland geboren und hat türkisch-kurdische Wurzeln. 2016 ist ihre nicht autorisierte Erdoğan-Biografie erschienen.