Das Verschwinden des Kusses
Die bekannteste Ägypterin in Deutschland ist nicht etwa Umm Kulthum sondern Nofretete. Welche Rolle spielt sie in Ägypten?
Adham Hafez: Etwa dieselbe wie in Deutschland. Nofretete ist noch immer das ultimative Symbol für Schönheit. Ihr Name bedeutet: Die Schöne ist gekommen. Zusammen mit den Königinnen Hatschepsut – der ersten Frau in einer derartigen Machtposition – und Kleopatra bildet sie ein unerreichtes Dreigestirn.
Dagegen löst die Geschichte der Büste von Nofretete in Ägypten natürlich andere Gefühle aus als in Deutschland. Diese Büste ist nicht das einzige Objekt der ägyptischen Geschichte, das den Weg in eine europäische Sammlung gefunden hat und jetzt außerhalb unseres Einflussbereichs liegt. Ich denke zum Beispiel an all die Obelisken in Italien und Frankreich. In Italien gibt es einige Obelisken, denen man ein Kreuz auf die Spitze gesetzt hat, als wolle man sie taufen. Das wirft natürlich viele Fragen zu kulturellem Eigentum auf.
Sie haben 2011 das Stück "White Arabs / Dark Arabs" inszeniert. Auch darin spielt Nofretete eine Schlüsselrolle. Sie sei, so heißt es einmal, viel deutscher als die meisten ägyptischen Einwanderer in Deutschland.
Hafez: Dazu muss ich ausholen. Während ich an dem Stück arbeitete, war gerade die Revolution in Ägypten ausgebrochen. Sowohl von meiner Wohnung als auch von meinem Büro aus sieht man direkt auf den Tahrir-Platz. Ich war also von Anfang an mittendrin. In den ersten sieben Monaten habe ich dann auch alle internationalen Einladungen abgesagt und mich ganz ins Geschehen vor Ort gestürzt.
Dann begann ich, mich zu fragen: Was verbinde ich eigentlich mit dem Arabersein? Das war nicht nur eine Frage der europäischen Berichterstatter, sie kam in der ägyptischen Gesellschaft selbst auf. Ich erinnerte mich dabei daran, was meine Eltern aus der Nasser-Zeit erzählten, in der plötzlich Diskussionen über die "Reinheit der Rasse" bei uns aufkamen.
Es ging darum, wie man gleichzeitig ein richtiger Ägypter und ein richtiger Araber sein kann. Was mich betrifft: Ich habe mich noch nie darauf verstanden, ein ganz und gar "reines" Irgendwas zu sein. Ägypten hat eine lange Geschichte und wurde mehrmals kolonialisiert, auch von arabisch-muslimischen Herrschern. Wenn man also sagt, ein richtiger Ägypter sei gleichzeitig ein richtiger Araber, kann man genauso gut sagen, ein richtiger Ägypter sei auch ein richtiger Brite. Schließlich wurden wir auch von Großbritannien kolonialisiert. Solche Gedanken waren für mich der Anlass, Interviews über Fragen der nationalen Identität zu führen. Zusammen mit meinem Team haben wir die Aussagen dann dekonstruiert und uns auf dieser Grundlage selbst als das Fremde beschrieben.
Dadurch sind wir bei Nofretete und dem Umgang mit Einwanderern in Deutschland gelandet, wo es diesen bedenkenswerten Unterschied gibt zwischen einem Objekt, das einen Körper repräsentiert und einem wirklichen Körper. Unser Dramaturg hat daraus eine witzige Rede gemacht, in der er erklärt, der Name des Bode-Museums komme aus dem Altägyptischen und Nofretete bedeute auf Deutsch "Die Frau, die sich nach Deutschland durchgeschlagen hat".
Sie wurden gerade zum Festival "Return to Sender" am Hebbel-am-Ufer-Theater in Berlin eingeladen. Thema waren künstlerische Positionen zur Berliner Konferenz von 1884, als europäische Mächte Afrika unter sich aufgeteilt haben. Ihr marokkanisch-französischer Kollege Mehdi-Georges Lahlou hat aus diesem Anlass eine Reihe von queeren Nofretete-Büsten ausgestellt – das war eine der Inspirationen zu unserem Gespräch. Hier in Berlin ist zudem die Queer-Theorie zurzeit das Thema schlechthin in der Kunst...
Hafez: Es gibt übrigens kein Wort für Queerness im Arabischen.
Das gilt auch für das Deutsche.
Hafez: Ja, das deutet daraufhin, dass die Queer Studies – genauso wie beispielsweise im letzten Jahrhundert die Psychoanalyse – zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entstanden. Daher ist auch alles, was in Ägypten dazu publiziert wird, auf Englisch.
Was läuft in der Kairoer Kunstszene zu diesem Thema?
Hafez: In erster Linie ist die Kunstszene mit der derzeit katastrophalen Realität beschäftigt, mit Krieg, den Toten der Revolution sowie mit alltäglichen Fragen zu Menschen- und Bürgerrechten. Für Betrachter aus dem Ausland könnten manche künstlerische Arbeiten in einem Queer-Kontext stehen – obwohl die Künstler sie selbst nicht so beschreiben. Das gilt übrigens auch für mich. Oder für Arbeiten, die man als ein politisches Bekenntnis wahrnimmt, die sich selbst aber nicht so definieren.
Zum Beispiel die jüngste Arbeit von Lana Al-Sennawi, die sich anhand von historischen Filmen mit dem Verschwinden des Kusses aus dem ägyptischen Film beschäftigt. Ein anderes Beispiel wäre "Shame" von Shayma Aziz, ein Frauenporträt, das auf den Betrachter aggressiv wirkt und so eindrucksvoll die Stellung des weiblichen Körpers in der Kunst reflektiert.
Außerdem fällt mir das neue Werk von Amanda Kerdahi Matt ein. In ihrer Installation hat sie sich mit Frauen zum Rauchen getroffen, die Zigarettenfilter dann aufgesammelt und zu einer Nikotin-kontaminierten Leinwand zusammengefügt, auf die sie Projektionen wirft. Das Kunstwerk wird zu einer Art "Dokument", das an weibliche Geheimgesellschaften und informelle Zusammenkünfte von Frauen erinnern soll, die wir in Ägypten kennen.
Haben solche Traditionen einen gesellschaftlichen Einfluss?
Hafez: Es gibt diese Treffen, wo Frauen unter sich bleiben. Zum Reden, zur gegenseitigen Unterstützung, zum Auftragen von Henna oder zur kosmetischen Behandlung. Daneben gibt es auch Traditionen wie zum Beispiel den Zar-Kult – eine Art exorzistisches Ritual, um sich mit den eigenen Dämonen gut zu stellen. Man singt und tanzt bis zur Erschöpfung mit den Dämonen ihre Lieblingslieder, um sie zufriedenzustellen. Seit der britischen Kolonialzeit ist diese Tradition sowohl für die Ausführenden als auch für die Zuschauer verboten.
In Kairo können wir heute den Zar nur noch an einem einzigen Ort antreffen. Dort wird Zar wie ein Konzert praktiziert und die Künstlerinnen versuchen möglichst aufzuhören, bevor sie in Trance fallen. Die Ausführenden sind fast nur Frauen. Mit Ausnahme von alten Männern oder Homosexuellen. Wenn ein Mann mitmachen möchte, muss er wie eine Frau gekleidet sein. Eine sehr matriarchale Tradition! Ich bin mit einer Zar-Priesterin in der Nachbarschaft aufgewachsen. Sie hatte so viel Macht, dass ich als Kind weggerannt bin, wenn sie durch die Straßen lief.
Sie haben Ihr futuristisches Stück "2065 BC", in dem Sie die Rituale der Macht dekonstruieren, ausschließlich mit Frauen besetzt. Warum?
Hafez: Diese Frauen sind einfach fantastisch und jede von ihnen hat unglaubliche Talente. Eine von ihnen ist die stärkste Türsteherin, die ich jemals gesehen habe. Sie ist eigentlich bildende Künstlerin und Performerin, hat aber auch für einen berühmten Club in Kairo gearbeitet. Wen sie abweist, der fängt keine Diskussionen an. Wenn ich da an die großen Typen mit den ihren Muskeln vor dem Berliner Berghain denke! Sie kommt ohne aus. Ihre Mittel sind die Stimme und ihre sehr klaren Anweisungen. So hat jede dieser Frauen ihre ganz eigene Geschichte.
Ein weiterer Grund, warum ich in "2065 BC" nur mit Frauen arbeite: Das Stück behandelt das Ende der Welt. Der dritte Weltkrieg – der undefinierte Krieg, in dem wir uns bereits befinden – ist gerade vorbei. Es muss eine Veränderung geben. Also dürfen keine Männer mehr an die Macht. Trotzdem handelt es sich nicht um ein feministisches Stück. Es geht nicht darum, wer regiert, sondern wie wir die Welt gestalten.
Wenn man in einem Schrottauto unterwegs ist, fährt man früher oder später gegen die Wand. Egal, ob der Fahrer männlich, weiblich oder queer ist. Also habe ich einfach gezeigt, was passiert, wenn dieses Auto, das immer gegen die Wand fährt, von Frauen gefahren wird. Damit benutze ich die Genderfrage, um auf überkommene Mittel und Strategien aufmerksam zu machen, nicht jedoch als ein Lösungsangebot. Denn die Lösung ist um einiges komplexer als ein Wandel in der Geschlechterfrage.
Interview: Astrid Kaminski
© Qantara 2015