Tanger und Gibraltar: zwei Städte, ein Kulturkreis
Herr Haller, ist "TanGib“ Fantasie oder Wirklichkeit? Und falls es "TanGib“ politisch nicht gibt, könnte es kulturell real sein?
Dieter Haller: Administrativ gab es eine solche Region nie, obwohl britische Diplomaten und britisches Militär in beiden Städten anwesend waren. Denken Sie an General Henry McLean, der in Gibraltar diente und nach seinem Ausscheiden aus dem britischen Regiment 1876 die Armee des Sultans von Marokko ausbildete und später auch befehligte.
Als Anthropologe beschäftige ich mich eher mit den informellen als mit den formellen Beziehungen. Deshalb spreche ich auch von der einen Stadt. Es gab historische Epochen, in denen beide Orte eng miteinander verbunden waren, was Demografie, formellen und informellen Handel, Familienbeziehungen, Eigentum usw. angeht. Daher erlaube ich mir, von "TanGib“ zu sprechen.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, in einigen Perioden war dies kulturell durchaus Realität. Zu anderen Zeiten waren diese Verbindungen deutlich lockerer. Für diese Verbindungen waren neben den Briten vor allem sephardische Juden entscheidend (Nachfahren von Juden, die vor 1492 auf der spanischen Halbinsel lebten, Anm. der Redaktion). Sie waren aber nicht die Einzigen: Man denke an Familien wie die Petris, die Saccones, die Katzaros, die Ferraris. Sie alle waren an beiden Orten ansässig.
"TanGib“ ist eine kulturelle Realität
Um auf Ihre zweite Frage zu antworten, ob es sich bei "TanGib“ um eine kulturelle Realität handeln könnte. So ist es bereits oder immer noch: Den Wind, die Wellen, die Temperaturen, die Geräusche und auch den Schmutz erleben ja alle Menschen dort gleich. Man denke nur an die allgegenwärtigen Möwen! Man denke an die gibraltarischen Marokkaner, die – neben dem marokkanischen Darija – lieber die gibraltarische Sprache Llanito sprechen als Englisch oder Spanisch.
Könnte diese kulturelle Realität in Zukunft noch an Einfluss gewinnen? Ja, durchaus! Das hängt aber auch von den weiteren geopolitischen Entwicklungen ab, beispielsweise von den gemeinsamen britisch-marokkanischen Interessen.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit Sevilla, Gibraltar und Tanger. Alle diese Regionen eint ihre andalusische Vergangenheit. Könnte die gemeinsame Vergangenheit eine wichtige Rolle bei der Beziehung zwischen den beiden Mittelmeerküsten spielen oder wird diese Nord-Süd-Beziehung weiter von der eurozentrischen Sicht dominiert?
Haller: Üblicherweise beschäftigt sich Anthropologie weniger mit Prognosen, also nicht mit dem, "was Menschen in Zukunft tun werden“, sondern mit dem, "was Menschen tun“. Allerdings stützen wir uns auch auf eine solide Wissensbasis, auf Netzwerke und auf langjährige Erfahrungen in unseren Forschungsgebieten. Das gestattet es mir, eine Vorstellung von der Zukunft zu entwickeln.
Spanier suchen nach neuen Perspektiven – in Marokko
Marokko verfolgt eigene Interessen und Projekte mit der anderen Seite. Das Vereinigte Königreich und Spanien ebenfalls. Selbstverständlich interpretiert Europa die Lage aus eurozentrischer Sicht. Diese Perspektive ließe sich durchaus erfolgreich infrage stellen: Marokko müsste sich bei den Europäern nicht nur als Tor zum Süden darstellen, sondern auch als Tor zu seinen Partnern in Subsahara-Afrika, als Tor zum Norden oder – wegen des neuen Hafens Tanger Med – als Tor zur Welt. Marokko ist das mit Abstand erfolgreichste Land in Nordafrika. Es sollte nicht nur auf europäische Vorstellungen reagieren, sondern seine eigene Rolle als Regionalmacht gestalten.
In bestimmter Hinsicht führt die neue Rolle Marokkos bereits zu einem Umdenken – und zu einem anderen Verhalten. Man denke an die Region Campo de Gibraltar in der spanischen Provinz Cádiz. Die Stadt La Línea de la Concepción gilt als einer der ärmsten Orte Spaniens. Auch andere Orte der Region leiden infolge der Finanzkrise unter wachsender Armut und hoher Arbeitslosigkeit. Ich bin jungen spanischen Paaren begegnet, die auf der Suche nach besseren wirtschaftlichen Aussichten die Meerenge in Richtung Marokko überquert haben. Wir werden sehen – inschallah.
In Ihrem Buch behandeln Sie auch den Brexit. Welche Rolle kann Gibraltar allgemein im Verhältnis zwischen Großbritannien, Marokko und Afrika spielen?
Haller: Durchaus eine zentrale Rolle. Wie Tanger kann Gibraltar die Meerenge kontrollieren – den Boughaz (arabische Bezeichnung für die Meerenge von Gibraltar, Anm. der Red.). Wenn man dem britischen Premierminister Boris Johnson glauben darf, gibt es Planungen für einen Tunnel von Kankouche in Marokko nach Gibraltar. Er dürfte allerdings eines von vielen nicht realisierten Projekten sein, mit denen man Afrika und Europa verbinden wollte. Angesichts der tektonischen Verhältnisse in der Meerenge bezweifle ich, dass der Tunnel realisierbar ist.
Gibraltar: Heimat sephardischer Juden
Und noch etwas: Da der marokkanische König Mohammed VI. und die Alawiden-Dynastie – zumindest seit dem 20. Jahrhundert – die jüdischen Gemeinschaften stets schützten, ist Gibraltar die einzige Stadt in der Region (abgesehen von den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla), in der noch sephardische Juden leben. In Gibraltar leben heute kaum mehr als etwa 1.000 Juden.
Aber diese Gemeinschaft ist über familiäre und geschäftliche Beziehungen eng mit den Juden und ihren Nachkommen aus den Städten Tanger, Tétuoan, Asilah und anderen marokkanischen Städten verbunden, die heute im Ausland leben, insbesondere in Kanada, Lateinamerika und Israel. Aus rein funktionaler Sicht, die ich allerdings nicht teile, könnte man diese Tatsache als sehr gute "Ressource“ für eine gemeinsame Politik zwischen Marokko und dem Vereinigten Königreich betrachten.
Bitte erklären Sie Ihr Konzept des "Kulturkreises“, insbesondere im Zusammenhang mit "TanGib“.
Haller: Der Begriff "Kulturkreis“ wird oft auf eine geschlossene Region angewandt, die in sich recht homogen ist, gegenüber anderen Regionen jedoch starke Unterschiede aufweist. Die unreflektierte Verwendung des Begriffs durch Wissenschaftler und im öffentlichen Diskurs entspricht nicht der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs, den die Ethnologen Leo Frobenius und Fritz Graebner im frühen 20. Jahrhundert entwickelt haben.
Ihnen ging es nämlich darum, einen Begriff für Kulturen zu prägen, die untereinander enger verbunden sind als mit anderen Regionen. In ihrem Sinne haben Kulturkreise selbstverständlich Verbindungen nach außen und sind keineswegs homogen. Wenn eine Gemeinschaft, wie beispielsweise eine ethnische Gruppe, auf mehreren Ebenen vieles mit einer anderen Einheit gemeinsam hat, kann man dies als "Kulturkreis“ bezeichnen. Zugegebenermaßen ist unsere Vorstellung von "Kreis“ hier nicht ganz passend, weil ein Kreis normalerweise auf etwas Geschlossenes hinweist.
Die Meerenge von Gibraltar als eigener Kulturkreis
Vor diesem Hintergrund ist der Boughaz für mich ein "Kulturkreis“, weil Menschen, Sprache, Essen und Lebensweise seit Jahrhunderten so eng miteinander verbunden sind – deutlich enger als beispielsweise die Beziehungen von Gibraltar mit der Region Málaga oder Tangers mit Marrakesch. Kurzum: Wenn eine Gemeinschaft in vielen verschiedenen Bereichen über einen längeren Zeitraum hinweg enge Verbindungen pflegt, dann würde ich dies als einen Kulturkreis bezeichnen.
Zudem könnte diese Vorstellung einen Weg aus identitären Vorstellungen weisen, die unser zeitgenössisches Denken derart vergiften – sei es in Bezug auf Ethnizität, Kultur, Geschlecht oder was auch immer. Dies wäre ein Ausweg, der auf wissenschaftlich-empirischer Feldforschung beruht, die charakteristisch für mein Fachgebiet ist.
Die derzeitige Argumentation gründet sich größtenteils auf Identität als einem Bekenntnis zu etwas: "Ich bin dies, ich bin das.“ Das versuchen wir durchaus zu würdigen. Wichtig ist aber nicht, was Menschen sagen, sondern was sie tun. Deshalb misstrauen wir Interviews grundsätzlich: Denn das, was die Menschen zu tun vorgeben, entspricht nicht dem, was sie tatsächlich tun.
Vielfältige Migrationsgeschichte
Dem Thema Migration geben Sie in Ihrem Buch nicht viel Raum, obwohl es doch die aktuellen Debatten über die Beziehungen zwischen beiden Seiten des Mittelmeers beherrscht. Bestätigen die Tragödien rund um die Migration nicht, wie schwierig es ist, über eine Vorstellung wie "TanGib“ zu sprechen?
Haller: Nein, das denke ich nicht. Die meisten Kolleginnen und Kollegen aus meinem Fach konzentrieren sich ausschließlich auf die Probleme der Migration: den Migrationsdruck, die Flüchtlingskatastrophe, die Strapazen, denen die Migranten ausgesetzt sind. Das alles ist sicher tragisch und wurde bereits oft dokumentiert. Wir brauchen allerdings nicht noch einen Anthropologen, der das Gleiche tut. Ich beschäftige mich im Unterschied dazu vorzugsweise mit den Lebenswegen der Menschen, die zu 80 bis 90 Prozent nicht migrieren, sondern vor Ort bleiben.
Zudem liegt mein Schwerpunkt auf Tanger und Gibraltar. Ich betrachte die Migration zwischen diesen beiden Orten aus historischer Sicht: Spanische Liberale, die Spanien im 19. Jahrhundert über Gibraltar verließen, jüdische Flüchtlinge, die während der Berberkriege 1886 über Tanger nach Gibraltar kamen, schwule britische Flüchtlinge (oft als Exzentriker verunglimpft), die in den 1940er und 1950er Jahren nach Tanger gingen, Juden, die Marokko nach der Unabhängigkeit verließen, marokkanische Arbeiter, die seit 1965 nach Gibraltar einwandern.
In Gibraltar stellen Marokkaner nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Befördert diese marginale Präsenz nicht den westlich kulturalistischen Blick auf "die Anderen“?
Haller: Ja und nein. Gibraltar sieht sich selbst als kosmopolitisch. Es versteht sich als einen Ort, an dem Protestanten, Katholiken, Muslime, Juden und Hindus harmonisch zusammenleben. Nach 30 Jahren in der Region kann ich sagen: Ja, dieses Bild trifft zu. Darum schätze und bewundere ich diesen Ort.
Allerdings gab es noch bis vor kurzem eine klare Hierarchie zwischen den Gruppen. Die Stadt sah sich hauptsächlich als britisch und jüdisch. Die Gibraltarer darf man aber nicht als typische Vertreter des Westens abstempeln. Diese koloniale Bevölkerung musste ihre eigene Identität jenseits des Spanischen oder Britischen erst finden.
Suche nach einer eigenen Identität
Dieser Prozess war von den äußeren Bedingungen geprägt: Die Gibraltarer wollten beweisen, dass sie nichts mit den Andalusiern gemein haben, denn in Spanien galten sie als "seltsame Spanier“. Sie betonten ihr Britischsein, was auch ein Ergebnis der Bildung war: Denn die Gibraltarer schickten ihre Kinder auf britische Universitäten. Die meisten kehrten an den Felsen von Gibraltar mit der Erfahrung zurück, im Königreich nicht als "Briten unter Briten“, sondern als "Kolonialbriten“ betrachtet zu werden.
In den 1990er Jahren beschwor die nationale Bewegung in Gibraltar ein mediterranes Britentum, das seine Wurzeln auf Malta, Katalonien, Genua und Portugal zurückführte. In jenen Jahren arbeitete ich an meiner ersten Feldforschung in Gibraltar. Dieses nationale Narrativ ließ Juden, Muslime und Hindus leider außen vor.
Das änderte sich in den 2000er Jahren und dann noch stärker in den 2010er Jahren. Ein Hindu wurde Parlamentspräsident, eine Jüdin Oppositionsführerin, eine junge muslimische Frau wurde zur Miss Gibraltar gewählt. Fabian Picardo, Chief Minister von Gibraltar, würdigte 2015 dann öffentlich die dritte Generation der Muslime als Teil der gibraltarischen Identität. Manche mögen das als westlich-kulturalistisch bezeichnen.
Ich würde das nicht tun, denn auf Ebene der Gemeinschaften – und mich interessiert, wie bereits gesagt, mehr das, was Menschen tun, als das, was sie sagen – vermischen sich Menschen aller Gruppen: Sie besuchen miteinander die Schule, spielen Fußball oder trinken und essen miteinander. Ich meine: Die Dinge haben sich geändert. Und zwar zum Besseren. Hamdullilah – Gott sei Dank!
Islamische Kultur in Gibraltar
Obwohl Gibraltar für Muslime eine große Symbolkraft besitzt, spielt der Islam in Ihrem Buch keine große Rolle. Hängt das mit der Unterdrückung der islamischen Kultur und Geschichte in Gibraltar und Andalusien zusammen?
Haller: Im Buch beschäftige ich mich mit dem Zeitrahmen von 1713 – dem Jahr der britischen Eroberung des Felsens – bis heute. Dabei beziehe ich mich definitiv auf historische Quellen beider Seiten, die sich irgendwie mit "denen auf der anderen Seite“ beschäftigen. Zugegebenermaßen sind die islamischen Quellen rar. Möglicherweise habe ich daher einige Perspektiven übersehen. Doch ich behandle durchaus die frühen 1990er Jahre, als der saudi-arabische König Fahd die prächtige Ibrahim-al-Ibrahim-Moschee an der Südspitze der Halbinsel an einem symbolträchtigen Ort bauen ließ.
Lange Zeit war diese Moschee jedoch nicht für gibraltarische Muslime zugänglich – zumindest nicht für die Mehrheit, also die einfachen marokkanischen Arbeiter. Das wollten die Saudis ausdrücklich nicht. Paradoxerweise profitierten die marokkanischen Gibraltarer daher am wenigsten von der Moschee als spiritueller Stätte.
Es stimmt allerdings, dass die marokkanischen Arbeiter und ihre Kinder und Enkel von den Gibraltarern nicht als ihre "Landsleute“ gesehen wurden. Aber das galt auch für die Sindhi-Hindus, die über mehrere Generationen im Boughaz ansässig waren. Die Gibraltarer befürchteten, dass die Sindhi-Hindus die Rechtsstellung eines Gibraltarers beanspruchen könnten.
Daher mussten deren Angehörige außerhalb Gibraltars leben, beispielsweise in der Region Campo de Gibraltar oder in Tanger. Dass Hindus und Muslime als Gibraltarer anerkannt und als "Landsleute“ betrachtet werden, ist eine relativ neue Entwicklung, die seit 2005 eingesetzt hat.
Fouzia Hayouh
© Qantara.de 2021
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Dieter Haller, "Tangier/Gibraltar – A Tale of One City. An Ethnography“, (dt. Tanger/Gibraltar – Die Geschichte einer Stadt. Eine Ethnographie) Transcript Verlag 2021