"Sie wollen uns nicht!"
Frau Saadawi, begreifen Sie sich in erster Linie als Schriftstellerin oder als politische Kämpferin für die Rechte der Frauen?
Nawal El Saadawi: Ich mag das Wort politisch nicht. Ich hasse Politik! Es ist ein schmutziges Spiel. Ich verstehe mich als kreative Schriftstellerin, weil ich sowohl Romane und Theaterstücke, als auch wissenschaftliche Abhandlungen verfasse, Belletristik und Sachbücher.
Ihre Karriere als Schriftstellerin schlugen Sie bereits Ende der 1960er Jahren ein. Meilensteine Ihres bisherigen literarischen und wissenschaftlichen Schaffens waren u.a. Bücher wie "Women and Sex" oder "The Hidden Face of Eve". Wie erklären Sie sich Ihren bis heute anhaltenden Erfolg - nicht nur in Ägypten, sondern weltweit?
El Saadawi: Sie fragen mich, warum sich Bücher talentierter Schriftsteller gut verkaufen? Nun, weil es gute Literatur ist! Weil sie kreativ, wissenschaftlich, einmalig und authentisch ist. Weil es etwas ist, das gleichermaßen aus dem Herzen und Verstand kommt – etwas, was aus der Erfahrung kommt und nicht aus reinem Bücherwissen. Meine Belletristik und meine Studien handeln vom Leben - sie sind ursprünglich, kreativ und aufrichtig. Das gefällt den Menschen.
Charakteristisch für mein literarisches Schaffen ist, dass ich keine Trennung von Roman- und Sachliteratur, von Medizin und Kunst vornehme. Sie sind eine Einheit! Ich halte nichts von Unterteilungen echter und fiktiver Charaktere, weil letztlich doch jede fiktive Geschichte auf einer wahren basiert – sonst kann man keinen Zugang zum Text finden.
Ich habe rund 24 Bücher publiziert, die meisten bei Zed Books in London. Einige sind Sachbücher, die sich bis heute gut verkaufen. Ein Roman ist beispielsweise "Woman at Point Zero" – ein Buch, das auch auf Deutsch vorliegt. Es wurde in der DDR übersetzt, lange vor dem Mauerfall. Auf Deutsch trug es allerdings den sehr unglücklich gewählten Titel "Ich spucke auf euch!". Ich habe mich sehr gewundert, wie der Herausgeber nur so etwas publizieren konnte. Und ich wurde daraufhin in Ägypten von Fundamentalisten attackiert, die mich fragten: Auf wen spucken Sie, Nawal El Saadawi?! Also, im Deutschen scheint man wohl eher ein Faible für schockierende Titel zu haben…
Man warf Ihnen vor, Handlangerin westlicher Interessen zu sein…
El Saadawi: Ja, sie behaupteten, dass ich mit meiner Literatur darauf abzielen würde, westliche Interessen zu bedienen, was völlig abwegig ist. Es waren die fundamentalistischen Gruppen, die begannen, das Bild des kreativen Schriftstellers zu verzerren und ihn öffentlich bloßzustellen. Das taten sie ja nicht nur mit mir, sondern mit allen unabhängigen Schriftstellern, die nicht ergebene Diener Sadats oder Mubaraks oder Mursis waren. Um wirklich unabhängig zu sein, musste ich in meinem Leben einen hohen Preis bezahlen – meine berufliche Anstellung, mein Einkommen, meinen Ruf.
Sie waren in der Vergangenheit zahlreichen Verfolgungen ausgesetzt: Unter Präsident Anwar El Sadat wurden Sie 1981 inhaftiert, in den 1990er Jahren kursierte Ihr Name auf Todeslisten islamistischer Eiferer und 2002 wurden Sie der Apostasie beschuldigt. Wie haben Sie es geschafft, allen politischen Widrigkeiten zum Trotz, unbeirrt an Ihrer Arbeit festzuhalten?
El Saadawi: Unter Gamal Abdel Nasser wäre ich wohl auch inhaftiert worden – unter allen Präsidenten und Regierungen. Zensur erfahre ich auch im Westen. Der Grund liegt im kapitalistischen, religiösen, patriarchalen System, ganz gleich ob es nun islamische, christliche, jüdische oder buddhistische Züge trägt. Ich bin gegen dieses System im lokalen und globalen Maßstab. Und das ist auch der Grund dafür, weshalb ich angegriffen werde – in Ägypten genauso wie in den europäischen Ländern. Ich bin im Westen nicht willkommen. Willkommen geheißen werde ich von wenigen fortschrittlich denkenden Menschen, die sich ebenfalls gegen das Patriarchat, gegen Kapitalismus, Neoliberalismus und Militarismus wenden. Und es sind genau diese Leute, die auch meine Literatur schätzen. Die überwiegende Mehrheit hält es dagegen mit dem kapitalistischen System.
Nicht nur gegen Sie, sondern auch gegen Ihre Tochter wurde ein Verfahren wegen Apostasie eingeleitet. Wie kam es dazu?
El Saadawi: Ich glaube, es gab insgesamt fünf Gerichtsverfahren gegen mich. Wegen meines Theaterstücks "God Resigns in the Summit Meeting" wollten sie mir sogar in den 1990er Jahren die Staatsbürgerschaft entziehen. Dann musste ich Ägypten verlassen und lebte für drei Jahre im Exil, in Atlanta (USA). 2002 wurde ich wegen Apostasie angeklagt und sollte zwangsweise von meinem Mann geschieden werden. Einige Jahre darauf wurde auch meine Tochter Mona Helmy, die ebenfalls eine sehr begabte Feministin und Schriftstellerin ist und für die ägyptische Wochenzeitschrift "Rose al-Youssef" schrieb, wegen Apostasie angeklagt. Sie hatte es gewagt, den Namen ihrer Mutter und ihres Vaters am Ende eines Artikels in der Zeitschrift zu verwenden. Kinder dürfen aber nur den Namen des Vaters tragen und nicht der Mutter. Sie begründete ihren Schritt damit, dass es ihr Recht und das Recht ihrer Mutter sei, den Namen zu verwenden. Daraufhin wurde gegen sie ein Verfahren eröffnet.
Doch meine Tochter hatte mit ihrer Aktion, den Namen der Mutter zu respektieren, eine Welle der Solidarität in Ägypten ausgelöst. Sie schuf damit eine Bewegung, was auch zwingend notwendig war, denn Mütter haben in Ägypten kaum Rechte: Ein Ehemann kann 30 oder 40 Jahre mit seiner Frau zusammenleben, Kinder haben und ihr dann die Scheidung postalisch zukommen lassen. Er kann sich sogar von ihr scheiden lassen, ohne dass sie es weiß. Das Gesetz erlaubt dies. Da ich Psychiaterin bin, kommen manchmal Mütter im Alter von 60 bis 70 Jahren zu mir, die ihr gesamtes Leben der Familie geopfert haben - ihrer "geheiligten" Familie und ihrem Ehemann. Doch am Ende müssen sie feststellen, dass sie ohne ihr Wissen geschieden wurden und der Mann inzwischen mit einer 40 oder 50 Jahre jüngeren Frau verheiratet ist. Ihre Kinder sind inzwischen auch verheiratet und besuchen sie nicht. Diese Frauen kommen mit schweren Depressionen und zahlreichen anderen psychischen Krankheiten zu mir.
Führte die Frauenrechtskampagne Ihrer Tochter trotz des Verfahrens gegen sie letztlich zum Erfolg?
El Saadawi: Ja, es ist dem Druck ihrer Kampagne zu verdanken, dass sich die Regierung im Jahr 2008 dazu veranlasst sah, das Kinderschutzgesetz zu ändern. Angesichts von drei Millionen unehelichen Kindern war das wohl auch dringend nötig, denn viele Mütter dieser Kinder waren Vergewaltigungsopfer. Stellen Sie sich vor: Diese Kinder durften nicht den Namen der Mutter annehmen und der Vater war unbekannt. Folglich konnten diese Kinder keine Geburtsurkunden erhalten und zur Schule gehen. Heute dürfen sie das, was ein großer Sieg für uns war. Einen weiteren großen Erfolg feierten wir im gleichen Jahr mit dem Verbot der weiblichen Genitalverstümmlung. Es gibt also immer wieder positive Entwicklungen, die mir viel Kraft geben.
Hat die Unterdrückung der Frau in Ägypten primär ihre Ursache in der Tradition des patriarchalen Systems oder ist sie vielmehr auf religiöse Faktoren zurückzuführen?
El Saadawi: Nein, es ist die Sklaverei! Die Unterdrückung der Frau in Ägypten geht nicht zurück auf Traditionen, Islam und Fundamentalismus, sondern auf das System der Sklaverei – ein System der patriarchalen Klassengesellschaft, das von den Religionen unterstützt wird. Ich habe die Geschichte des Zeitalters der Sklaverei studiert. Schauen Sie, im Alten Ägypten vor 7.000 Jahren hatten wir Göttinnen: Isis war die Göttin der Weisheit und nicht der Reproduktion! Und es gab Maat, die Göttin der Gerechtigkeit. Was dann historisch passierte war, dass die Frauen ihrer bisherigen Stellung beraubt wurden. Stattdessen gab es dann im Christen- und Judentum Eva, die die Sünde repräsentierte und der Islam hat dies dann später geerbt. Tatsächlich gibt es heute viele Leute, die sagen, dass es die islamische Religion sei, die Frauen unterdrücke. Denen entgegne ich dann: Nein, es war ursprünglich das Christen- und Judentum. Der Islam hat diese Praxis übernommen.
Ich habe zehn Jahre damit verbracht, das Alte und das Neue Testament mit dem Koran zu vergleichen – sie sind sehr ähnlich, die Unterschiede sind minimal. Man kann also sagen, die Unterdrückung der Frau ist im globalen, post-modernen Kapitalismus angelegt, das durch den religiösen Fundamentalismus Unterstützung erfährt. Und zwar aus dem Grund, weil die Verfechter eines solchen Systems einen Gott brauchen, um die Unterdrückung zu rechtfertigen, ihre politische Heuchelei, den Kolonialismus und das Töten von Menschen. Wie lässt sich die Invasion Palästinas oder des Iraks rechtfertigen? Oder wenn 50 Prozent der Menschen in Ägypten heute unter der Armutsgrenze leben, wohingegen zwei Prozent der Bevölkerung Milliarden Dollar besitzen? In welcher Weise lässt sich so etwas noch rechtfertigen? Dazu braucht man schon Gott!
Wie beurteilen Sie die neue ägyptische Verfassung in Hinblick auf die Gleichstellung der Frauen und die Rechte der religiösen Minderheiten?
El Saadawi: Das ist doch alles politische Heuchelei! Die 50 Personen, die in dem Verfassungskomitee saßen, waren alle Regierungsvertreter – Politiker, die von der Regierung bezahlt wurden. Unter ihnen waren auch Mitglieder der Salafisten, eine der rückwärtsgewandtesten islamischen Gruppen überhaupt, sogar noch rückschrittlicher als die Muslimbrüder. Artikel 2 der Verfassung besagt zum Beispiel, dass der Islam die Religion Ägyptens sei. Aber was heißt das denn genau? Ist Ägypten ein religiöser Staat? Nein, sagen sie dann, Ägypten sei ein säkularer Staat. Diese Verfassung steckt voller Widersprüche. Und selbst die wenigen positiven Aspekte sind nur Tinte auf dem Papier. Ein Beispiel: Die Verfassung garantiert in einem Artikel die Freiheit des Glaubens. Der Staat dürfe sich nicht in religiöse Belange einmischen, heißt es darin. Und erst kürzlich verbot die Al-Azhar den Film "Noah", ein Hollywood Bibel-Epos, weil darin einige Gesandte Gottes gezeigt werden. Was hat das noch mit Glaubensfreiheit zu tun? Jeden Tag können wir die Verletzung der Glaubensfreiheit beobachten.
Ich wurde von vielen Menschen gefragt, warum ich nicht diesem Verfassungskomitee angehört habe. Und tatsächlich: Wie kommt es, dass die Regierung nach der Revolution ein Komitee bildet und uns Frauen und Menschen aus der Zivilgesellschaft nicht einlädt? Ein Blick auf die Frauen des Gremiums genügt, um festzustellen, dass sie früher für Mubarak gearbeitet haben. Sie wollen uns nicht! Sie wollen keine wirklich mutigen Leute, die für ihre Überzeugungen wirklich einstehen. Sie wissen, dass ich schreiben und dafür auch ins Gefängnis gehen kann. Daher sagen sie sich: Okay, lasst sie besser alleine!
War die Januar-Revolution in Ägypten angesichts der vielen Rückschläge, die die Frauenrechtsbewegung seit der Übergangsregierung hinnehmen musste, rückblickend ein einziges großes Scheitern?
El Saadawi: Mohammed Hussein Tantawi stand damals an der Spitze des Militärs. Unter ihm wurden Demonstrantinnen von der Armee inhaftiert und zu Jungfräulichkeitstests gezwungen. Alle Regierungen, die nach der Revolution an die Macht kamen, haben die Revolution vorzeitig beendet. Was war geschehen? Während wir auf dem Tahrirplatz protestierten, verhandelten bereits die Opportunisten hinter den Kulissen mit den Leuten des Mubarak-Regimes. Als die Revolution trotzdem weiterging und sie mit ihrem Programm gescheitert waren, angefangen mit der ersten Regierung unter Essam Sharaf, die auch die Revolution beenden wollte, kamen weitere Regierungen an die Macht, die ebenfalls der Revolution rasch ein Ende bereiten wollten – wobei jede dieser Regierungen mit der Muslimbruderschaft kollaborierte, bis diese an die Macht kam und ihrerseits die Revolution für nichtig erklärte.
Heute haben wir es in Ägypten mit einer Elite zu tun, der Mittelklasse und der oberen Mittelklasse, die überhaupt keine Prinzipien mehr hat, geschweige denn ein Gewissen. Sie sind Opportunisten, die die Revolution nur zu ihrem eigenen Vorteil benutzt haben. Und das ist auch der Grund dafür, weshalb alle Regierungen bis heute so miserabel sind – weil sie den Kontakt zu Menschen meiden, die überzeugte Revolutionäre sind und für ihre Ziele kämpfen.
Interview: Arian Fariborz
© Qantara.de 2014
Redaktion: Loay Mudhoon/Qantara.de