Brücken zwischen Revolutionen

1919 forderte Saad Zaghloul die Unabhängigkeit Ägyptens und ging als Revolutionär in die Geschichte ein. Fast hundert Jahre später erhebt sich das ägyptische Volk zu einer Revolution, der nun das historische Narrativ eines Militärputschs droht. Laura Pannasch sprach mit Laila Soliman, die in ihrer Performance "Whims of Freedom" zeigt, wie sich Geschichtsnarrative etablieren und so das kollektive Gedächtnis prägen.

Von Laura Pannasch

Ist es schon an der Zeit eine Performance über die Geschichte der ägyptischen Revolution zu machen, obwohl das Land noch in einer Revolution steckt?

Laila Soliman: Mit der Performance "Whims of Freedom" setzen wir der jetzigen Revolution kein Ende. Wir haben aber in den letzten drei Jahren sehr unterschiedliche Phasen der Revolution durchgemacht. Es wäre ignorant zum jetzigen Zeitpunkt so zu tun, als ob wir noch immer in derselben Situation wie in den ersten 18 Tagen der Revolution von 2011 steckten. Um weitere Fehler zu vermeiden, ist es an der Zeit zu reflektieren und das Vergangene näher zu beleuchten. Wie können wir unsere eigene Revolution fortsetzen, wenn wir nicht wissen, was die Generationen vor uns durchgemacht haben? Wie können wir begreifen, dass wir keine Ausnahme sind und dass unser Kampf nicht aussichtslos ist?

Der Text der Performance "Whims of Freedom" besteht aus verschiedenen Textdokumenten wie Liedern, Flugblättern und Gedichten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Wer hat diesen aufwendigen Text geschrieben?

Soliman: Vier Frauen haben ihn geschrieben: Alia Mosallam, die beiden Schauspielerinnen Zainab Magdy und Nanda Mohammad und ich haben ihn gemeinsam verfasst. Ich habe hauptsächlich an der Struktur und der Kombination der verschiedenen Textdokumente gearbeitet. Für die Lieder und Zitate haben wir lange recherchiert und sie in harter Arbeit entlang der geschichtlichen Ereignisse angeordnet.

Sie sind 1981 geboren. Können Sie die Ereignisse von vor hundert Jahren überhaupt nachspüren?

Soliman: Ich glaube nicht, dass Künstler auf die Darstellung ihrer eigenen Zeit beschränkt sind. Die Kunst ist es, eine Verbindung zwischen den geschichtlichen Ereignissen und sich selbst und dem Publikum herzustellen.

… was in "Whims of Freedom" durch Zitate aus Dokumenten der jetzigen Revolution - wie dem zitierten Brief eines inhaftierten Revolutionärs - deutlich wird. Ist dieser Brief echt?

Soliman: Teilweise. Wir haben nur kleine Veränderungen vorgenommen. Der Aktivist, der den Brief geschrieben hat, heißt Alaa Abdel Fattah.

Ägyptischer Aktivist und Blogger Alaa Abdel Fattah; Foto: Filippo Monteforte/AFP/Getty Images
Stimme der Revolution und der Freiheit: Der prominente ägyptische Blogger Alaa Abdel Fattah war bereits mehrfach inhaftiert worden, zuletzt wurde er zusammen mit 24 anderen Aktivisten von einem Gericht in Kairo zu jeweils 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Mitte September wurde er jedoch gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt.

Hatten Sie bei der Aufführung in Ägypten Probleme mit Zensur?

Soliman: Es gab Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Themen, aber keine Demonstrationen oder Zensur. Wir haben die Performance in zwei Durchgängen in Ägypten aufgeführt. Als Aufführungsort diente ein altes Gebäude namens "Al-Makan" in Kairo. Meiner Meinung nach ist das Stück für einen solchen Ort bestimmt, aber aufgrund der Koproduktion mit dem Gorki-Theater in Berlin haben wir die Performance auf die moderne Bühne des Studio R gebracht.  

Warum haben Sie zwei weibliche Darsteller für die Performance gewählt?

Soliman: Während unserer Suche nach den zitierten Liedtexten und Gedichten, war ich besonders von den weiblichen Künstlern um 1919 fasziniert. Für mich sind sie die größten Revolutionärinnen ihrer Zeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ahmten sie die französische Künstlerin Sarah Bernardt nach und trugen Männerkleidung auf Fotos. Und das in Ägypten! Zu einer Zeit als Frauen je nach gesellschaftlichem Stand ihre Gesichter komplett verschleiern mussten.

Ich denke, dass die Schauspielerin Nanda Mohammad in "Whims of Freedom" sehr inspirierend wirkt, weil sie in ihrer Erscheinung eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herstellt. Sie erinnert mich an die Diven des 20. Jahrhunderts. Für die Figur der Wissenschaftlerin entschied ich mich, weil ich einen Dialog auf der Bühne haben und das Thema der Geschichtsforschung offensichtlich machen wollte.

...und um den Kontrast des angeblich objektiv-kollektiven Gedächtnisses der Gesellschaft im Gegensatz zu einem subjektiv-selektiven darzustellen?

Soliman: Das ist eine Version. Ich will nicht verraten, was genau die Figur darstellt, aber das ist definitiv eine mögliche Interpretation.

Musste eine der Darstellerinnen aus Syrien kommen?

Soliman: Die Nationalität der Schauspieler mit denen ich zusammenarbeiten will, spielt für mich keine Rolle. Nanda Mohammad kommt aus Syrien, aber sie lebt in Kairo. Viele der ersten ägyptischen Künstlerinnen waren jüdisch und kamen aus Syrien oder dem Libanon. Munira al-Mahdiyya, die unter anderen in "Whims of Freedom" zitiert wird, war die erste muslimische Ägypterin auf der Bühne.

Erreicht Kunst und Kultur die unteren Schichten in Ägypten?

Theaterszene aus "Whims of Freedom"; Foto: Ruud Gielens
Die ägyptische Revolution von 1919 im Lichte der Revolution vom 25. Januar: "Mit der Performance 'Whims of Freedom' setzen wir der jetzigen Revolution kein Ende. Doch um weitere Fehler zu vermeiden, ist es an der Zeit zu reflektieren und das Vergangene näher zu beleuchten", sagt Laila Soliman.

Soliman: Um diese Frage zu beantworten, muss man zwei Dinge betrachten. Einerseits ist die staatliche Kulturpolitik sehr komplex und andererseits fehlt es an Information. An welchen Orten informiert der Staat über kulturelle Veranstaltungen und wer wird damit angesprochen? Zum Beispiel in der Kairoer Oper findet man gehobene Kunst für gehobene Kreise. Der Staat bemüht sich nicht darum, bestimmte Veranstaltungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und deswegen gibt es auch keine Information darüber. Und es gibt alberne Regeln wie Kleidervorschriften an diesen Orten. Es ist offensichtlich, dass die Kultur von staatlicher Seite nicht jedem zugänglich gemacht wird. Es gibt gehobene Kultur für die Zivilisierten und Populärkultur für die Masse.

Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Kunst die Masse erreichen?  

Soliman: Es ist immer eine Frage wen man mit seiner Kunst erreicht, warum man sie macht und wofür. Aufgrund der soziopolitischen Themen meiner Stücke, kann ich sicher sagen, dass sich etwas am Publikum geändert hat. Die Leute kommen nun verstärkt wegen des Inhalts und nicht nur, weil sie es gewohnt sind, ins Theater zu gehen. Sie kommen, weil sie merken, dass es etwas mit ihnen zu tun hat.

Ist das ein Ergebnis der Revolution?

Soliman: Nicht nur. Es ist auch ein Ergebnis der sozialen Medien. Sie sind das Hauptmittel zur Verbreitung von kulturellen Veranstaltungen. Heute erreicht man Leute, die normalerweise nie von diesen Veranstaltungen erfahren hätten. Das und die Inhalte haben sich während der letzten zehn Jahre allmählich geändert.

Welches Projekt planen Sie als nächstes?

Soliman: Ich arbeite gerade an einem Projekt mit jungen Leuten der "Akademie der Autodidakten" am Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Aber hoffentlich kann ich bald an den Textdokumenten von vergewaltigten Frauen in Ägypten aus dem Ersten Weltkrieg arbeiten. Während der Recherche für "Whims of Freedom" habe ich viele solche Dokumente gefunden. Es gibt eine Szene in der Performance, in der die Darstellerinnen einen Bericht eines Vergewaltigungsopfers laut vorlesen. Dies ist nur eines von vielen Dokumenten.

Interview und Übersetzung ins Deutsche von Laura Pannasch

© Qantara.de 2014