Ausbruch aus dem Gefängnis der Angst

Seit mehr als zehn Jahren hat die irakische Autorin Hadiya Hussein ihr eigenes Land nicht mehr besucht. Sie spricht über Heimat, Erinnerung und wie das Leben fern ihres Landes ihr Schreiben beeinflusst.

Interview von Marcia Lynx Qualey

Warum haben Sie mit dem Schreiben angefangen? Gab es einen auslösenden Moment oder reagierten Sie damit auf ein bestimmtes Erlebnis?

Hadiya Hussein: Es gab kein bestimmtes Ereignis, das mich zum Schreiben veranlasst hat. Das Umfeld meiner Kindheit hat mich nach und nach darauf vorbereitet. Ich wuchs in einer Familie auf, die den Gesang und die Dichtkunst liebte. Mein Vater war ein Poet der Alltagssprache. Und auch die meisten meiner Verwandten waren Dichter oder kannten zumindest viele Gedichte. Wir besaßen ein Grammophon und viele Schallplatten der bekanntesten irakischen und arabischen Sänger. Unser Haus befand sich am Tigris, einem der größten Flüsse des Irak, und meine Fantasie wurde durch die Legenden des Flusses und seinen Einfluss auf das Leben des irakischen Volkes genährt. Mein Vater war derjenige, der mich zum Lesen ermutigte, er brachte mir viele Bücher mit.

​​Ganz zu Beginn meines literarischen Wegs dachte ich, ich könnte eine große Poetin werden, insbesondere nachdem ich Preise an Schulen Bagdads gewonnen hatte. Später jedoch erweiterten und veränderten sich meine literarischen Interessen und ich begann, den Roman und die Erzählung vorzuziehen.

Wie ist Ihr Verhältnis zu irakischen Autoren und Lesern?

Hussein: Ich verließ den Irak vor 13 Jahren und habe seitdem nur noch heimlichen Kontakt mit ein paar befreundeten Schriftstellern dort, denn mein Name wurde von der alten Regierung auf die schwarze Liste gesetzt. Nach dem Zusammenbruch des Regimes im Jahr 2003 vereinfachte sich jedoch die Kommunikation zu anderen Schriftstellern und Lesern.

Sie leben weit entfernt von dem Land, in dem Ihre Werke gelesen werden. Inwiefern verleiht dies Ihnen eine gewisse Freiheit?

Hussein: Obwohl ich den Irak 1999 verlassen habe, war ich beim Schreiben niemals von dem Land getrennt, insbesondere wenn ich Romane schrieb. Deshalb sind Orte und Charaktere in meinen sieben Romanen alle irakischer Natur. Ich schreibe gegen die Kriege, die meinem Land großen Schaden zugefügt haben.

Tatsächlich fühle ich mich meinem Land näher, wenn ich nicht dort bin. Es ist wie bei einem Gemälde: je weiter man sich von ihm entfernt, desto deutlicher wird es. Seit ich den Irak verlassen habe, genieße ich die Freiheit, all das was ich sagen will auch auszudrücken. Im Irak habe ich unter ständiger Unterdrückung gelebt.

In Jordanien habe ich mich nie wie eine Fremde gefühlt. Dieses Land hat mir sein Herz geöffnet und geholfen, den Schmerz zu überwinden und nah an meiner Heimat zu bleiben. Dort lebte ich unter Menschen, mit denen ich eine Sprache, eine Geschichte und sowie gemeinsame Auffassungen teilte. Dort schrieb ich auch den Großteil meiner Romane und Kurzgeschichtensammlungen, sowie die Kultur-Artikel.

Dass ich weit vom Irak entfernt lebe, ist sehr schmerzhaft und hat auch mein Schreiben negativ beeinflusst. Ich habe den letzten Krieg mitsamt seinen Konsequenzen, wie dem uneingeschränkten Morden, nicht miterlebt. Aus diesem Grund fehlt dieser Teil in meinen Werken, oder ist zumindest kein Hauptthema.

Auf der anderen Seite hat meine Abwesenheit natürlich einen sehr positiven Einfluss auf meine Werke – denn ich bin frei zu schreiben, was ich will. Ich thematisiere die schlimme Ungerechtigkeit, die Militarisierung des Lebens, das Verschwinden von Jugendlichen in die versteckten Gefängnisse des Regimes. All diese Verbrechen wurden von der Welt nicht erkannt – oder nicht diskutiert. Ich kann schreiben und muss keine Angst vor den Repressionen des Regimes haben.

Wie hat Sie die Zensur beziehungsweise Selbst-Zensur beeinflusst?

Hussein: Zensur gibt es auf der ganzen Welt, wenn auch nicht überall in dem gleichen Maße. In arabischen Ländern ist die Situation katastrophal: Als Autor weiß man nie, ob die eigenen Texte den Leser überhaupt erreichen, denn das hängt allein von der Entscheidung eines Zensors oder Gutachters ab, dem meist jeglicher literarischer Hintergrund fehlt. Dieser Zensor ist ein Instrument der Regierung, der aufgrund eines bestimmten Satzes vollkommen willkürlich den ganzen Text ablehnen kann.

Noch schlimmer finde ich jedoch die Selbst-Zensur, in die sich Menschen flüchten, weil ihm das Regime keine andere Wahl lässt. Dann wächst die Angst des Schriftstellers, sie beeinträchtigt sein Schaffen und unterdrückt letztlich die Charaktere seines Romans. Das ist der Grund, weshalb ein Autor, der sich sowohl der Zensur als auch der Selbstzensur widersetzen kann, die Gedanken und Herzen der Leser schneller erreicht als derjenige, der beide Formen der Zensur akzeptiert.

Kreativität entfaltet sich nicht unter dem Schirm der Angst, sondern in einem Klima der grenzenlosen Freiheit. Der Titel meines letzten Romans lautete "To Fear" ("sich fürchten") und handelt von der Angst, die die Iraker seit Beginn der 1990er Jahre verfolgt. Damals tobte der Aufstand gegen das Regime Saddam Husseins im ganzen Land, das es schließlich dazu veranlasste, mit Repressionen der Lage Herr zu werden. In dem Roman sprach ich zudem die Ängste der irakischen Bürger an, die mehr vor einem mündlichen Ausrutscher Angst hatten als vor einem tatsächlichen Ausrutschen.

Eines Ihrer immer wieder auftauchenden Themen ist die Beziehung zwischen "Geschichte" und "Gedächtnis". Betreiben Sie für Ihre Arbeit Recherche oder verlassen Sie sich auf Ihre eigene Erinnerung und Vorstellungskraft?

Hussein: Ich habe ein großes Interesse an oraler Geschichte, deshalb beschäftige ich mich intensiv mit dem Leben meiner Mitmenschen. Geschriebene Geschichte ist verzerrt, denn sie wird von denjenigen verfasst, die Macht besitzen. Dennoch überprüfe ich natürlich – wenn nötig – alle Informationen, auf die ich stoße.

Sturz der Saddam-Statue im Zentrum Bagdads; Foto: AP
Hadiya Hussein: "Es ist wahr, dass die USA das irakische Volk von der Diktatur befreit haben – aber dies geschah zu einem sehr hohen Preis: Tausende wurden ermordet, das Land ist zerstört."; Foto: AP

​​Was das Gedächtnis betrifft, so stammen alle meine Romane und Geschichten aus dieser nie versiegenden Quelle. Mit der Zeit wächst das persönliche Gedächtnis zu einem öffentlichen Gedächtnis heran, vor allem dann, wenn die Wunden der Nation tiefer und ihre Qual größer ist als die eigene. Aus diesem Grund werde ich auch weiterhin über die Katastrophen in meinem Land schreiben, auch wenn ich nicht mehr dort lebe.

Wenn ich über wahre Begebenheiten schreibe, so nehme ich einen Teil meiner Rechercheergebnisse auf und ordne die Geschichte darum an. Fiktionales Schreiben erfordert jedoch keine absolut wahrheitsgemäße Wiedergabe der Ereignisse – Kunst und eigene kreative Gedanken müssen ihren gebührenden Platz im Roman einnehmen. Die Aufgabe des Roman-Autors ist eine andere als die des Historikers. In einem Roman kann man Ereignisse auslassen, hinzufügen oder verändern.

Hat sich die Art, wie Sie Ihr Publikum verstehen, wie Sie schreiben und Ihre Geschichten formen verändert, seit Sie in Kanada leben?

Hussein: So lange ich auf Arabisch schreibe, schreibe ich auch für den arabischen Leser. Um ehrlich zu sein, denke ich gegenwärtig nicht an den kanadischen Leser, da ich nicht auf Englisch oder Französisch schreibe. Vielleicht wird sich unsere Beziehung durch die Übersetzung meiner Arbeit verfestigen, oder wenn ich fließend Englisch sprechen und schreiben kann. Die Sprachbarriere hat großen Einfluss und ich bemühe mich sehr, dieses Hindernis zu überwinden. Nach der Fertigstellung meines aktuellen Romans, will ich mich mehr bemühen, Englisch zu lernen und literarische Werke in der Originalsprache lesen. Dennoch hat sich meine Arbeit schon insofern verändert, dass ich nun kanadische Charaktere benutze.

Denken Sie, dass das kanadische Exil auch Ihre Charaktere und deren Verhältnis zum Westen verändert?

Hussein: In einem kreativen Werk unterscheiden sich die Charaktere ja von der Realität. Wenn sich etwas in dem Verhältnis eines Charakters zum Westen verändert, so geschieht das aufgrund des Kontexts im Roman. Meine Haltung gegenüber den USA als Nation unterscheidet sich von meiner Haltung gegenüber der amerikanischen Politik. Ich respektiere das amerikanische Volk, ich habe jedoch andere Ansichten, was die Politik der USA in den Nationen der Dritten Welt betrifft. Aus Zeitmangel werde ich mich auf das konzentrieren, was im Irak geschehen ist.

Es ist wahr, dass die USA das irakische Volk von der Diktatur befreit haben – aber dies geschah zu einem sehr hohen Preis: Tausende wurden ermordet, das Land ist zerstört. Bei der Irakinvasion wurden nicht die Grenzen gesichert. Das machte sie anfällig für Terroristen, die irakische Einrichtungen niederbrannten und Kulturgüter stahlen, geschehen beispielsweise im Museum der Geschichte und im Irakischen Haus der Manuskripte.

All dies geschah in Anwesenheit amerikanischer Soldaten. Der Staat brach zusammen, die Armee wurde von einem amerikanischen Militär-Gouverneur aufgelöst und die neue Regierung etablierte ein konfessionelles System, unter dem die Menschen noch heute leiden.

Wie schätzen Sie die Zukunft der Literatur im Irak ein?

Hussein: Der Schaffenswillen irakischer Schriftsteller ist zweifellos bemerkenswert, das Problem ist nur, dass es im Land nur wenige Möglichkeiten gibt, um publizieren zu können. Neben dem staatlichen Verlagshaus gibt es nur wenige private Verlage, die für die meisten Schriftsteller jedoch nicht in Frage kommen, da sie für das Verlegen eines Buches horrende Kosten in Rechnung stellen.

In entwickelten Ländern kann ein Autor seinen Lebensunterhalt mit der Veröffentlichung seiner Bücher verdienen – im Irak ist das nicht möglich. Angesichts dieser Problematik bin ich nicht optimistisch, was die literarische Zukunft meines Landes angeht.

Interview: M. Lynx Qualey

© Qantara.de 2012

Übersetzung aus dem Englischen von Laura Overmeyer

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de