Die Stimme der Frauen
"Der Vers ist mein Gefährte, mein Geliebter / Um seinetwillen muss ich alles wagen“, schrieb die Dichterin Forough Farrokhsad 1955. Aus ihnen spricht, wie so oft in ihren Gedichten, ein Widerstand, ein Aufbegehren, eine Weigerung, sich mit dem Status Quo abzufinden. Dass Texte von Farrokhzad, die 1967 mit gerade erst 32 Jahren bei einem Autounfall starb, auch heute von den Demonstrierenden im Iran zitiert werden, ist kein Zufall, ebenso wenig wie ihr Status als wichtigster iranischer Dichterin des 20. Jahrhunderts.
An anderer Stelle heißt es: "Ein Funke, ein winziger Funke / Zündete von Zeit zu Zeit / Diese stumme, seelenlose Masse / Sprengte sie von innen auf / Sie stürmten aufeinander los / Männer schlitzten sich mit Messern / Gegenseitig die Gurgel auf / Und in einem Bett von Blut / Lagen sie / minderjährigen Mädchen bei“. (Alle Zitate aus dem Band "Jene Tage“, Deutsch von Kurt Scharf, Sujet Verlag, 5. Aufl. 2018).
Die junge Lyrikerin tat damals, lange vor der Islamischen Revolution von 1979, etwas Unerhörtes: Sie erhob sich gegen die Enge und die Gewalt einer patriarchalischen Gesellschaft, sie öffnete sich als Frau, die klar benennt, was Millionen Frauen im Land bewegt, und nicht nur das – sie schrieb auch unverschleiert über Sexualität, Liebe und Sehnsüchte. Viele ihrer Verse haben bis heute nichts von ihrer Aktualität und ihrer Wucht verloren.
Bis heute werden ihre Texte gelesen, bis heute geben viele, auch jüngere Autorinnen sie als Vorbild und Inspiration an. Die Versuche des Khomeini-Regimes, ihre Texte zu verbieten (in den 1980ern waren sie offiziell nicht erhältlich), sind kläglich gescheitert. Das gilt übrigens generell: Dass Texte zensiert oder verboten werden, bedeutet nicht, sie wären nicht mehr verfügbar.
Literarischer Schwarzmarkt
Unzensierte Texte kursieren im Internet, in gedruckter Form auf dem florierenden literarischen Schwarzmarkt – oder sie werden in Exilverlagen publiziert und finden ihren Weg über das Ausland zurück nach Iran.
Trotzdem hat die Zensur natürlich eine immense Wirkung: Sie schafft massive Unsicherheit für Verlage, die mit aus Sicht der Zensoren problematischen Texten ihre wirtschaftliche Existenz riskieren, während Autorinnen mehrheitlich gar nicht erst die Möglichkeit haben, sich eine literarische Karriere aufzubauen.
Autorinnen, die im Land selbst publizieren, müssen daher stets mit subtilen Mitteln arbeiten – eine Autorin, die das perfektioniert hat, ist Fariba Vafi. In ihren Kurzgeschichten und Romanen zeichnet sie Protagonistinnen, deren eigentliche Geschichte oft zwischen den Zeilen stattfindet.
So entsteht beispielsweise in ihrem Roman "Der Traum von Tibet“ (Deutsch von Jutta Himmelreich, Sujet Verlag 2018) ein Gefühl von Enge und Eingeschlossensein, die sich an der Oberfläche in den beschriebenen Familienverhältnissen widerspiegelt, während der titelgebende Traum auch den Traum vom Ausbruch aus den gesellschaftlichen Zwängen meint.
In "Tarlan“ (Sujet Verlag 2015) findet sich ein ähnliches Setting, wenn auch in anderem Kontext: Die junge Protagonistin macht ihre Ausbildung an einer Polizeischule, um ihr Elternhaus hinter sich zu lassen. Zugleich bedeutet das für sie aber auch, ihren eigentlichen Traum, Schriftstellerin zu werden, hinter sich zu lassen. Der literarische Kniff, den Fariba Vafi anwendet, ist dieser: Anstatt die Ausbildung und den Drill an der Polizeischule zu beschreiben, spielt sich fast der gesamte Roman im Schlafsaal der Mädchen ab, wo man ihnen als Leser nahe kommt.
Auch die Sprache trägt den Hidschab
Was diese Mädchen bewegt, sind die ganz normalen Träume und Sehnsüchte junger Frauen, von denen viele an den engen Grenzen dessen scheitern, was ihnen in ihrem Heimatland zugestanden wird. "Wir Frauen leben im Keller des Landes“, so drückte Vafi es im vergangenem Jahr in einem Interview mit der ZEIT aus und fügte hinzu: "Auch die Sprache trägt den Hidschab.“
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, warum Bücher von iranischen Autorinnen, die im Ausland erscheinen, ohne jede Restriktion, oft so eruptiv sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist Mojgan Ataollahis "Ein leichter Tod“ (Deutsch von Susanne Baghestani, Residenz Verlag 2015): Die autofiktionale Erzählung verzichtet auf alles Subtile und stellt stattdessen eine Ehehölle voller Missbrauch und Gewalt in all ihrer Brutalität schonungslos dar. "Das Leben ist für mich ein Exil, das meine Eltern mir auferlegt und aufgezwungen haben“, heißt es da.
Ihr Ehemann Majid verbietet der Protagonistin, Bücher zu lesen und zu schreiben. Als er ihre versteckte kleine Bibliothek entdeckt, verspricht er ihr ein Bücherregal. Es ist der Tag von Tschaharschanbeh-Suri, dem traditionellen Feuerspringen vor dem persischen Neujahrsfest. Die Familie versammelt sich und Madjid wirft Mojgans Bücher und Manuskripte ins Feuer.
Später fesselt er sie auf den Wohnzimmertisch und vergewaltigt sie. Wenn er sie verprügelt, muss die Tochter zusehen. Mojgan beginnt, sich zu wehren. Sie erkämpft sich eine Gleichgültigkeit gegenüber ihrem sadistischen Ehemann, zeigt ihn schließlich an und reicht die Scheidung ein. Doch niemand nimmt sie ernst. Später schließt sie sich mit neuen Hoffnungen den Demonstrationen gegen das Regime im Sommer 2009 an, doch jede Hoffnung endet, als sie miterlebt, wie die Menschen in den Foltergefängnissen verschwinden.
Düster und melancholisch
Am bezeichnendsten für die junge Generation, die die aktuellen Proteste antreibt, ist vielleicht Ava Farmehris Debütroman "Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen“ (Deutsch von Sonja Finck, Edition Nautilus 2020). Der Name der Autorin, die in Kanada lebt, ist ein Pseudonym. Sie versteckt ihre Identität und die Vermutung liegt nahe, dass sie es tut, um Verwandte in Iran zu schützen.
Ihr Roman ist eine dunkel-melancholische Coming-Of-Age-Geschichte im Iran der 1980er und 1990er Jahre und sie lässt erahnen, was in jenen vorgeht, die noch später geboren sind. Denn die Millennials, die eines ganz maßgeblich von der "Generation der Verbrannten“ vor ihnen (jenen, die nichts anderes kennengelernt haben als die Islamische Republik) unterscheidet, haben Zugang zum Internet und damit zur Welt. Sie sind wissbegierig, die Mehrheit der Studierenden an den Universitäten sind Frauen.
Sie versuchen, hinter verschlossenen Türen jene Freiheiten zu leben, die sie oft nur über das Netz aus anderen Ländern kennen. Denn sie müssen, sobald sie vor die Tür treten, nicht nur den Tschador, sondern auch eine Vielzahl von Masken aufsetzen, um ihr wahres Ich vor den Einschränkungen des Regimes zu verbergen.
Es ist eine Generation, die nicht mehr bereit ist, diese Widersprüche und Zwänge zu akzeptieren. Anders als die Generationen vor ihnen, deren Aufstände das Regime wieder und wieder blutig niederschlug (seien es die Studentenproteste 1999, die Grüne Bewegung 2009, die Arbeiteraufstände 2017 und 2019), lassen sie sich auch von noch so roher Gewalt nicht einschüchtern. Die nach dem Tod der Kurdin Mahsa Amini im September 2022 ausgebrochenen Proteste dauern schon jetzt länger als alle vorherigen.
Was hat die Literatur damit zu tun? Sie ist ein Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen. Wer die Bücher iranischer Autorinnen aus den letzten Jahrzehnten liest, kann direkt nachvollziehen, wie die Verwerfungen und Eruptionen größer und heftiger wurden. Man kann sehen, wie viel sich angestaut hat im Lauf der Zeit. Dass daraus ab einem gewissen Punkt ein revolutionärer Funke entstehen würde, war klar.
Literatur, auch Kunst generell, stellt solche Entwicklungen nicht nur dar, sondern trägt sie auch mit. Khomeini hatte das verstanden, der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Khamenei, hat es verstanden, ebenso wie die Zensoren im Kulturministerium und die Despoten in anderen Ländern. Sie wissen, wie gefährlich ihnen Literatur werden kann. Am Ende aber bleibt die Zensur ein stumpfes Schwert. Denn was verboten ist, bleibt interessant und wird seinen Weg zum Publikum finden.
Gerrit Wustmann
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