Auf den Spuren von Gandhi
Der prominenteste Vertreter einer konsequenten Gewaltlosigkeit aus islamischen Quellen ist der syrische Gelehrte Sheikh Jawdat Said. Geboren 1931 hat Jawdat Said an der Al-Azhar Universität in Kairo studiert und 1957 dort seine Studien abgeschlossen. In Ägypten hat er damals miterlebt, wie die Spannungen zwischen Muslimbrüdern und der Nasser-Regierung eskalierten. Er hat beobachtet, wie die zunehmende Militanz der Muslimbrüder Nasser den Vorwand für noch mehr staatliche Repression lieferte.
Sein wichtigstes Buch "The Doctrine of the First Son of Adam or The Problem of Violence in the Islamic Action" erschien bereits 1964 und war eine direkte Replik auf Sayyid Qutb, einen der Begründer des militanten Islam. Said bestreitet nicht, dass der Koran das Recht auf Selbstverteidigung enthält. Trotzdem plädiert der Gelehrte, der bisweilen auch als "arabischer Gandhi" bezeichnet wird, für einen völligen Verzicht auf Gewalt. Als politischen Rahmen für eine friedliche Lösung von Konflikten hält er den demokratischen Rechtsstaat für am besten geeignet.
Said hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, die in der arabischen Welt diskutiert werden. Im Westen sind sie kaum bekannt, obwohl einige seiner Werke auch ins Englische übersetzt wurden. In seiner Heimat Syrien hat sich Jawdat Said in der demokratischen Opposition engagiert, war dort aber außerhalb von Intellektuellenkreisen wenig bekannt. 2005 hat er zusammen mit anderen Oppositionellen die Erklärung von Damaskus unterzeichnet.
Vorbild für den gewaltfreien Protest gegen Assad
"Er wurde lange Zeit in Syrien nur noch wenig wahrgenommen, aber zu Beginn der Demonstrationen gegen Assad im März 2011 tauchten plötzlich Passagen aus seinen Werken auf Spruchbändern auf", berichtet der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza, der sich für die deutsche Stiftung Weltethos mit Ansätzen zur Gewaltfreiheit im Islam beschäftigt.
Said habe die Demonstranten immer wieder ermahnt, ihre Anliegen friedlich zu äußern und auf die Übergriffe des Regimes nicht mit Gegengewalt zu reagieren. Nachdem aus der syrischen Revolution ein bewaffneter Krieg geworden war und Saids Haus in dem Dorf Bir Ajam zerstört wurde, flüchtete der Gelehrte in die Türkei, wo er heute in Istanbul lebt.
In Indien hat Maulana Wahiduddin Khan (geb. 1925 im Bundesstaat Uttar Pradesh) eine islamische Friedenstheologie aus sufischen Quellen entwickelt und dafür zahlreiche öffentliche Auszeichnungen erhalten. Der Begründer des "Center for Peace and Spirituality" in Neu Delhi betont immer wieder, dass Gewaltlosigkeit heute die einzige akzeptable Option für Muslime darstelle. Allerdings hat Khan mit seinen Äußerungen zum Nahostkonflikt, wo er einseitig für die israelische Seite Partei ergreift, einigen Unmut unter Muslimen ausgelöst. Insgesamt scheint seine Friedenstheologie weniger durchdacht als der Ansatz von Jawdat Said.
Ähnliche Ansätze haben der schiitische Geistliche Mohammad El-Shirazi (1928-2001) im Iran oder Asghar Ali Engineer (1939-2013) aus Indien vertreten.
Friedlicher Widerstand in Palästina
Aber nicht nur Theoretiker haben sich mit dem Thema befasst, auch in der Praxis gibt es Beispiele von gewaltlosem zivilem Ungehorsam, zum Beispiel in der Westbank. Die palästinensischen Bauern des Dorfes Ni'lin kämpfen seit Jahren mit friedlichen Sit-Ins und Protesten um ihr Land und wollen zeigen, wie sich aus dem endlosen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt aussteigen lässt.
Von Jawdat Said haben sie noch nie etwas gehört. Sie haben sich bisher auch nicht durch Übergriffe der israelischen Armee von ihrem friedlichen Protest abbringen lassen. Nur erhalten die Bauern von Ni'lin viel weniger Aufmerksamkeit als Selbstmordattentäter und Terroristen.
Der Ägypter Mohammed Abu-Nimer plädiert dafür, sich auch in der Wissenschaft mehr solchen Beispielen von friedlichem zivilem Widerstand unter Muslimen zuzuwenden. Bisher liege der Fokus zu einseitig auf der Frage, warum es Gewalt im Namen des Islam gebe. Abu-Nimer ist kein Theologe, sondern Direktor des "Peacebuilding and Development Institutes" an der American University in Washington D.C. .
Der Konfliktforscher hat ein Konzept für Friedensarbeit im Islam vorgelegt, indem er islamische Prinzipien wie den Wert des Lebens, das Streben nach Verständigung und Harmonie identifizierte und aus ihnen eine Begründung ableitete, warum Gewaltlosigkeit ein Kernprinzip des Islam sein müsse. In den heiligen Texten und in der islamischen Tradition stünden durchaus Ressourcen zur Verfügung, die sich für die friedliche Lösung von Konflikten mobilisieren ließen, meint der Wissenschaftler. Diese Ressourcen zum gewaltfreien Ausgleich unterschiedlicher Interessen seien viel zu lange vernachlässigt worden.
Gewalt ist religiös unzulässig
Hinweise darauf, dass der Koran die Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung erlaubt, helfen für Abu-Nimer heute nicht mehr weiter. "Die Zeiten haben sich geändert und deshalb ist die Verwendung von Gewalt, um Differenzen beizulegen und den Glauben zu verbreiten, religiös nicht mehr zulässig", schreibt der Wissenschaftler.
Traditionelle Schutzmechanismen wie sie der Koran vorsieht, zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten, seien im 21. Jahrhundert sinnlos. Asymmetrische Kriege, ferngesteuerte Drohnen und nicht zuletzt atomare Waffen machen eine solche Unterscheidung hinfällig.
Noch sind die konsequenten Verfechter von Gewaltlosigkeit unter Muslimen eine kaum bekannte Minderheit. Der Islamwissenschaftler Muhammed Sameer Murtaza will in einem über fünf Jahre laufenden Projekt der von dem katholischen Theologen Hans Küng gegründeten Stiftung Weltethos ihre Ansätze genauer erforschen und in der muslimischen Community bekannter machen. Die für viele neuen Gedankengänge sollen dazu beitragen, soziale und politische Spannungen abzubauen, die die muslimischen Gemeinschaften derzeit zu zerreißen drohen.
Claudia Mende
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