Wir brauchen keine Fabrikbesitzer!
Ende Januar 2013 teilte der Manager der Istanbuler Kazova-Textilfabrik seinen damals 94 ArbeiterInnen mündlich mit, dass sie eine Woche Urlaub hätten. Danach würde der ausstehende Lohn komplett ausbezahlt und die Produktion wieder aufgenommen.
Dies entpuppte sich als eine glatte Lüge. Die Eigentümer, die Familie Somuncu, nutzten die arbeitsfreie Woche dazu, um ihre eigene Fabrik zu plündern, Maschinen, Stoffe, Material – alles, was sich problemlos herausschaffen ließ. Den Arbeitern wurde danach fristlos gekündigt, da sie "unentschuldigt" nicht am Arbeitsplatz erschienen.
"Mein Gehalt lag damals bei knapp 400 Euro“, erinnert sich der 56-jährige Dursun Ceylan, der 13 Jahre lang für Kazova im Stofflager gearbeitet hatte. "Vier bis fünf Monate haben wir überhaupt kein Geld bekommen, obwohl wir voll produzierten."
Für Ceylan begann die Krise Kazovas mit dem Einstieg des Gründerenkels Umut im Jahr 2003. "Der war ein Motorrad-Freak und stand auf Harleys, die alle umgerechnet rund 28.000 Euro kosteten und von denen er elf hatte. Da ist viel Geld draufgegangen, für die Firma hat er sich jedoch nicht engagiert."
Nach der Zwangsentlassung suchten die um ihren Lohn betrogenen Arbeiter einen Anwalt auf. Der erste verlangte allein für die Prozesseröffnung 1.100 Euro. Daraufhin wandten sie sich an den "Verein der Modernen Juristen" (ÇHD), der einen Anwalt stellte, der den Prozess gegen die Eigentümer für nur 35 Euro schon Mitte Februar 2013 eröffnete.
Somit war aber nicht nur der Rechtsweg eingeleitet, um die Gehälter zurückzufordern, die Arbeiter standen nun zum ersten Mal mit einer erfahrenen Protestkultur in Kontakt. Bis dahin waren die meisten von ihnen eher unpolitisch. "Wir hatten Arbeiter, die mit den Faschisten sympathisierten, andere waren Anhänger der AKP, und es gab auch ein paar Sozialdemokraten unter ihnen. Aber von den ehemals 300 Arbeitern sind vielleicht zwei oder drei zu einer Maidemonstration gegangen", erzählt Nihat Özbey, ein ehemaliger Beamter, der sechs Jahre lang für die Kazova-Textilfabrik als Maschinist gearbeitet hatte.
Auf eigene Faust
Durch Kontakt zu den Anwälten und deren Umfeld entschlossen sich 28 der 94 Arbeiter dazu, es nicht bei einem Gerichtsverfahren zu belassen. Von Februar bis Mai 2013 marschierten die Kazova-Arbeiter und deren Sympathisanten jeden Samstagabend zur zentralen Istiklal-Straße, u dort zu demonstrieren. Am 28. April schlugen sie darüber hinaus ein Zelt vor der Fabrik im Stadtteil Bomonti auf. "Tagsüber waren dort Frauen, nachts Männer", sagt Ceylan und fügt hinzu: "Während der Proteste haben wir gesehen, dass die Polizei die Eigentümer und deren Interessen schützt und gegen uns vorgeht. Deshalb haben wir beschlossen, am 15. Mai die Fabrik zu besetzen."
Die Polizei blieb ihrer Linie treu und wusste die Besetzung zu verhindern. In dieser Zeit schrumpfte die Zahl der verbliebenen Arbeiter von 28 auf elf – bis heute bilden sie den "harten Kern" der Bewegung.
Es sah nicht gut aus. Die Fabrik war geschlossen, die Eigentümer nicht auffindbar. Kein Geld, keine Maschinen, kaum Leute und ein schleppender juristischer Prozess. Aber dann begannen die Gezi-Proteste rund um den Taksim-Platz, etwa 20 Gehminuten von Kazova entfernt.
Beflügelnder Gezi-Park-Protest
Auch die Kazova-Arbeiter waren von Anfang an dabei, einige sogar mit ihren Zelten im Gezi-Park. Das Leben spielte sich zwischen Taksim-Platz und der Kazova-Fabrik ab. "Von den Gezi-Protesten beflügelt hatten wir dann am 28. Juni den Mut, unsere Fabrik zu besetzen. Ohne diese Erfahrungen hätten wir das gar nicht erst gewagt, uns gegen die Polizei zu stellen", erklärt Ceylan.
Die Fabrik befand sich zu diesem Zeitpunkt im maroden Zustand. Trotzdem gelang es den Arbeitern, einige der verbliebenen Webmaschinen wieder flott zu machen und 25 Tage lang zu produzieren. Doch dann griff die Polizei erneut ein. Die Maschinen wurden beschlagnahmt. Und der Prozess vor dem Arbeitsgericht dauert bis heute an.
Nichtsdestotrotz sind Ceylan, Özbey und Ihsan Bulut von der Gewerkschaftsinitiative DIH zuversichtlich, dass er noch im November 2014 endet. Dann hoffen sie, unter gleichem Namen, aber in einer anderen Produktionsform, Kazova wieder auferstehen zu lassen.
Direktverkauf mit alternativem Kulturzentrum
Doch trotz der anhaltenden Auseinandersetzungen tut sich viel: Seit Februar 2014 gibt es in der Nähe des alten Fabrikgeländes einen Verkaufsraum mit integriertem Kulturzentrum. In diesem Laden sollen die fertigen Textilien künftig direkt vermarktet werden. "Wir wollen nicht, dass die großen Ladenketten sich an unseren Produkten bereichern, sondern bezahlbare Textilien in guter Qualität selbst verkaufen", sagt Özbey.
Daher wollen sie in Zukunft weitere Läden eröffnen und ihre guten Kontakte ins Ausland nutzen. Diese reichen von der kubanischen U21-Fußballnationalmannschaft, deren Trikots sie entwarfen, über besetzte Fabriken in Italien, Frankreich, Griechenland und Spanien bis hin zur Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di in Deutschland, deren Vertreter den Kazova-Laden neulich besuchten. Ein deutlicher Wandel der Kundschaft.
Früher beschenkte Kazova auch den damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan: "Nur die beste Kaschmir-Wolle wurden für dessen Pullover verwendet. Einige davon trägt er immer noch – die dunklen Kleidungsmodelle stammen von uns", berichtet Ceylan nicht ohne Stolz.
Ungewisse Zukunftsaussichten
Die Zukunftspläne der Kooperative klingen vielversprechend, bleiben jedoch vage. Kazova ist rechtlich eine Kooperative, die alle Entscheidungen gemeinsam fällt. Hierarchien soll es nicht geben, jeder hat ein Stimmrecht. Darüber hinaus sprechen Ceylan und Özbey davon, jedem Arbeiter umgerechnet 1.248 Euro zahlen zu wollen – so viel, dass eine vierköpfige Familie davon leben kann.
"Am Anfang wird das nicht gleich funktionieren können, aber wenn die Produktion erst einmal richtig läuft, muss das unser Ziel sein", glaubt Ceylan. Auch wenn die meisten ehemaligen Arbeiter nicht direkt am Protest beteiligt waren, steht ihnen der Weg in die Kooperative jederzeit offen. "Wir wollen wieder eine große Fabrik werden, größer als zuvor."
Am 5. Dezember 2014 soll es einen Solidaritätsabend mit Essen und künstlerischem Programm im Kazova-Laden geben. Dabei sollen auch für den Neuanfang Gelder gesammelt werden. Für zehn gebrauchte Maschinen benötigen die Kazova-Aktivisten rund 250.000 Euro. Gelder, die nicht auf einmal zusammen kommen werden, weshalb geplant ist, die Produktion zunächst mit drei bis vier Maschinen aufzunehmen.
Ekrem Güzeldere
© Qantara.de 2014