Keine Politik, keine Religion, kein Sex

Warum die Leiterin eines Kulturzentrums in Bagdad die Stellung hält, erklärt Lena Bopp in diesem Artikel.
Warum die Leiterin eines Kulturzentrums in Bagdad die Stellung hält, erklärt Lena Bopp in diesem Artikel.

Hella Mewis lässt sich nicht unterkriegen. Die Leiterin eines Kulturzentrums in Bagdad wurde schon entführt und bleibt trotzdem in ihrer Heimatstadt Bagdad. Warum? Antworten von Lena Bopp

Von Lena Bopp

Sie werde oft gefragt, warum sie an Bagdad so hänge, sagt Hella Mewis. „Ich antworte immer dasselbe. wegen der Architektur und der Menschen.“ Ein warmer Wind weht über die Veranda, der feine Staub legt sich über den Tisch, die Bänke, Kaffeetassen und Zigaretten. Die Veranda von Bait Tarkib, dem Kulturzentrum, das Hella Mewis vor Jahren gegründet hat und bis heute leitet, geht zur Straße hinaus und gibt den Blick frei auf ein Gebäude gegenüber, das ein gutes Beispiel für die Art von Architektur sein könnte, von der sie spricht: Heller Ziegelstein, zwei Stockwerke mit flachem Dach, die ornamentverzierten Holzläden seit Ewigkeiten verschlossen, ein paar Fenster zertrümmert. Die vergangene Schönheit gut sichtbar hinter der verfallenen Gegenwart.

In dieser Straße sieht jedes dritte, vierte Haus so aus, sie alle erzählen ähnliche Geschichten von zerbrochenen Lebensentwürfen einer gehobenen Mittelschicht, die das Land über die Jahre verlassen hat, zermürbt von Instabilität und Willkür, Chaos und Gewalt an jeder Straßenecke. Man kommt keinen Kilometer weit in Bagdad, ohne daran erinnert zu werden, dass vor wenigen Jahren an dieser Ecke ein Selbstmordattentäter viele Menschen mit sich in den Tod riss; dass in jene belebte Einkaufsstraße ein mit Sprengstoff vollgepackter Kühlwagen gesteuert wurde und ein paar Straßen weiter eine Autobombe ein metertiefes Loch in ein Regierungsgebäude sprengte. Bagdad ist gepflastert von Erinnerungen des Grauens.

Drei Tage gefangen gehalten

Auch von jener an das Grauen, das Hella Mewis selbst erlebt hat, als sie im Sommer 2020 aus ihrem Viertel Karrada entführt wurde. Drei Tage lang wurde sie gefangen gehalten, von wem genau, darüber herrscht bis heute Unklarheit. Dann wurde sie befreit, bedankte sich vor laufenden Kameras bei den irakischen Behörden und flog nach Deutschland aus. Dort blieb sie etwa ein Jahr. „Das war schwer für mich“, sagt sie. Wer so lange in Bagdad gelebt hat, für den ist Berlin eine fremde Stadt. Also schlug sie die Warnungen deutscher Behörden, es sei zu früh für eine Rückkehr, in den Wind und kehrte auf eigene Faust in den Irak zurück. Und nun?

„Ich fahre nicht mehr so oft mit dem Fahrrad“, sagt sie lachend, denn sie weiß wohl, dass ihr das Fahrrad, mit dem sie gerne in Bagdad unterwegs war, eine verhängnisvolle Bekanntheit bescherte. Auch den Tahrir-Platz, auf dem während der Proteste 2019 monatelang Zehntausende Iraker zusammenkamen, um gegen Korruption und Konfessionalismus zu demonstrieren, auf dem Dutzende Zelte standen, in denen diskutiert und gestritten wurde, auch diesen Platz habe sie wohl zu oft besucht, sagt sie rückblickend. „Obwohl ich selbst immer die Devise ausgegeben habe: no politics, no religion, no sex!“

Hella Mewis neben dem Musiker Ameen Mokdad im Kulturzentrum Bait Tarkib. (Foto: TARKIB)
Sich ein Bild von einer Stadt machen: Hella Mewis neben dem Musiker Ameen Mokdad im Kulturzentrum Bait Tarkib.

Das war und ist das Credo für Bait Tarkib, um das Haus und seine Künstler vor Leuten zu schützen, deren Aufmerksamkeit man im Irak besser nicht auf sich zieht. „Aber im Leben gibt es Fehleinschätzungen“, sagt sie. Nicht nur sie selbst sei einer aufgesessen. Auch ihre Entführer hätten wohl nicht mit dem enormen öffentlichen Interesse und der Welle an Solidarität gerechnet, die ihr Verschwinden ausgelöst hatte. Tagelang war der deutsche Krisenstab um ihre Freilassung bemüht. Freunde hatten eine große Pressekonferenz organisiert und eine Kampagne in den sozialen Medien lanciert. Und Hella Mewis ist überzeugt davon, dass diese Öffentlichkeit entscheidend war: „Das irakische Volk hat mich gerettet.“

„Mein Gott, wir machen Kunst“

Künftig wird es für sie allerdings darum gehen, nicht noch einmal zu viel Aufmerksamkeit zu erregen und eine Balance zu finden zwischen Zurückhaltung und Weitermachen. Letzteres sei um so schwieriger, als seit ihrer Entführung die finanzielle Förderung für Bait Tarkib ausbleibe, vor allem von deutschen Institutionen. Man könne eben kein Kulturzentrum fördern, dessen Chefin man als gefährdet ansehe und daher lieber außer Landes wisse. Hella Mewis scheint Verständnis dafür zu haben, auch wenn sie seufzt: „Mein Gott, wir machen Kunst.“

Das Haus existiert seit 2015 und vereint wie eine Villa Kunterbunt alle möglichen künstlerischen Ausdrucksformen unter einem Dach. Es gibt einen Raum für Tanz und einen für Musik, für visuelles Design und fürs Zeichnen. Es gibt Workshops und Bücher, Kaffee und Tee. Hella Mewis zieht sich gerne aufs Dach zurück, wo sie ein Zimmer angebaut und mit einer winzigen Bibliothek ausgestattet hat. Hier sammelt sie ihre Eindrücke aus der Stadt – Bilder von Denkmälern, architektonisch interessanten Häusern, Wandgemälden, Installationen und Interventionen in den Straßen von Bagdad, die sie in einer Art digitalem Archiv veröffentlicht. „Die Leute wissen oft nur wenig über ihre Stadt“, sagt sie. „Aber sie wollen wissen.“

Die Künstler in die Isolation gedrängt

Und die Künstler von Bait Tarkib eint offenkundig, dass sie zur Aufklärung beitragen wollen. Es gibt keine freie Wand und keine freie Ecke mehr in diesem Haus, das vollgestopft ist mit Fotos, Bildern, Postern und Skulpturen, die einen Eindruck von Themen und Ton vermitteln, um die es ihnen geht. Es ist kein provokativer Ton, eher ein sich vortastendes Fragen, das aus den Arbeiten spricht – aus den Fotos von Jumana Ridha, die sich mit der Wahrnehmung von Frauen im Irak beschäftigen genauso wie aus den Installationen von Loay Alhadhary, der sich mit der bedrohten Natur des Marschlandes im irakischen Süden befasst.

Es geht um Umweltschutz und Migration, um Klimawandel und Kindheitstraumata. Vier, fünf junge Künstler arbeiten zurzeit als artists in residence in Bait Tarkib, mit Hella Mewis als einer Mischung aus Mentorin und Mutter der Kompanie. „Tarkibis sind oft sozialkritisch“, sagt sie. Die meisten von ihnen wollten im Irak bleiben. „Wenn sie nur einen Menschen erreichen, dann ist das viel für sie.“ Vor wenigen Wochen ist das Tarkib Baghdad Festival für Zeitgenössische Kunst zu Ende gegangen, bei dem einige sich mit ihrer Installations-, Konzept- und Multimediakunst der Öffentlichkeit präsentierten.

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Frauen wagen sich häufiger vor die Tür

Einer kleinen Öffentlichkeit wohlgemerkt, denn die zeitgenössische Kunstszene in Bagdad ist schwer mit irgend etwas vergleichbar, weder mit der mancher arabischer Nachbarn noch mit anderen Teilen der Welt. Die amerikanische Kunsthistorikerin Nada Shabout, die an der University of Texas lehrt und unter anderem auf irakische Kunst der Moderne spezialisiert ist, nennt vielfältige Gründe dafür: die fehlende Infrastruktur, schwierige Bildungschancen und den brain drain, der den Irak in den vergangenen Jahrzehnten geschwächt hat. „All dies hat die irakischen Künstler in die Isolation gedrängt. Sie werden als nicht in der Lage angesehen, die globale Kunstsprache zu sprechen und sind somit von den Künstlern der irakischen Diaspora weit entfernt“, schreibt sie in einer Mail.

Außerdem dominierten in der Szene nach wie vor die Rhetorik und die Institutionen der siebziger Jahre, Hochschulen, Künstlerverbände und Gewerkschaften. „Die Künstler von Bait Tarkib fordern diesen Status quo heraus und stellen neue Optionen vor“, meint Shabout. Sie drängten darauf, neben anderen auch die zeitgenössische Kunstsprache als Ausdrucksmöglichkeit sichtbar zu machen.

Das ist natürlich kein leichtes Unterfangen, selbst wenn die Dinge in den vergangenen Jahren in Bewegung geraten sind. Ein paar neue Galerien haben eröffnet. Auch Hella Mewis hat beobachtet, dass die sogenannte Oktoberrevolution von 2019 einiges verändert hat. Die Leute seien mutiger, etwas zu sagen. Frauen wagten sich häufiger vor die Tür. „Auch am Stadtbild wird gearbeitet, kosmetisch zwar, aber immerhin.“ Dass der Umm Garden hinter dem Tahrir-Platz, ebenfalls ein Schauplatz des Volksaufstandes, sich am späten Abend in diesem Frühsommer voller Wasserspiele, Lichterketten und Menschen präsentiert, ist tatsächlich eine Neuheit.

Ebenso wie die zahlreichen Familien, die sich abends durch die berühmte Mutanabbi-Straße schieben, das Herz der irakischen Verlagslandschaft und Sehnsuchtsort arabischer Buchmenschen. Noch in den Jahren vor den Protesten war die Straße nachts dunkel und menschenleer. Aber nun ist die Straße hell erleuchtet. Die Leute ziehen an Flötenspielern, Buchhändlern und Zuckbäckern vorbei – und an dem alten Teehaus, in dessen Eingang die Porträts der vier getöteten Söhne und des Enkelsohns hängen, die der Teehaus-Besitzer bei einem Autobombenanschlag im Jahr 2006 verloren hat. Noch ein Ort des Grauens.

Und ein paar Meter weiter, die Straße hinunter drängeln sich die Menschen auf einen Ausflugsdampfer, der die halbe Nacht auf dem Tigris fährt, rauf und runter. Als wäre gar nichts gewesen.

Lena Bopp

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023