"Die nationalistische Strategie der AKP hat funktioniert"
Herr Lagendijk, die AKP des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan hat bei der türkischen Parlamentswahl am Sonntag (1.11.2015) fast neun Prozentpunkte hinzugewonnen im Vergleich zur Wahl im Juni. Wie lässt sich dieser Erfolg erklären?
Joost Lagendijk: Er speist sich vor allem aus drei Quellen: Die größte sind die Verluste der "Partei der nationalistischen Bewegung", die fast ein Viertel ihres Zuspruchs verloren hat. Diese Stimmen gingen fast ausschließlich an die AKP. Die AKP hat im Wahlkampf eine nationalistische Strategie verfolgt, und das hat offensichtlich funktioniert.
Außerdem haben einige außerparlamentarische Splitterparteien rechts von der AKP, die im Juni gemeinsam noch etwa vier Prozent errungen hatten, die Hälfte davon an die AKP verloren.
Die dritte und interessanteste Quelle besteht aber darin, dass ein Teil der Kurden sich von der HDP abgewandt und diesmal wieder für die AKP gestimmt hat. Die HDP hat gerade in ihren Hochburgen im Südosten der Türkei deutliche Verluste erlitten, was darauf hindeutet, dass viele Kurden die PKK und die Wiederaufnahme der Kämpfe ablehnen. Die AKP hatte Erfolg damit, dass Wiederaufflammen der Kämpfe allein der HDP anzulasten.
Außerdem hat die AKP einen anderen Wahlkampf geführt als noch im Juni, als Erdoğan für die Errichtung eines Präsidialsystems geworben hat.
Lagendijk: Sie hat Lehren aus dem Ergebnis im Juni gezogen und nicht den Fehler begangen, die Errichtung eines Präsidialsystems wieder in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes zu stellen. Ein Präsidialsystem ist ziemlich unpopulär bei den Türken und wird sogar von vielen AKP-Wählern abgelehnt. Es war also eine kluge Entscheidung, sich im Wahlkampf nicht mehr darauf zu beziehen. Erdoğan hat auch längst nicht eine so zentrale Rolle im Wahlkampf der AKP gespielt wie noch im Juni.
Die AKP hat ihre Kampagne diesmal stattdessen auf die Frage "Stabilität oder Chaos?" konzentriert. Sie hat sich mit Stabilität und die anderen Parteien mit Chaos gleichgesetzt. Was auch immer man davon halten mag: Das hat funktioniert.
Trotz der absoluten Mehrheit der Mandate kann Erdoğan sein Präsidialsystem aber weiterhin nicht durchsetzen, denn es fehlt der AKP an der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Mehrheit, um ein Referendum darüber initiieren zu können.
Lagendijk: Ja, und deshalb wird es wohl darauf hinauslaufen, dass er weitermacht wie bisher: Er wird als Präsident de facto das Land regieren, und die künftige Regierung wird das hinnehmen wie die bisherige. Wir werden weiterhin erleben, wie Erdoğan in die Tagespolitik eingreift, obwohl er das laut Verfassung eigentlich nicht darf. Er wird es aber tun können, weil nur der Ministerpräsident sich dagegen stellen könnte – und der wird das nicht wagen. Auf dem Papier wird die Verfassung also nicht geändert werden, aber tatsächlich wird der nahezu tägliche Verfassungsbruch durch den Staatspräsidenten seine Fortsetzung finden.
Die früheren großen Namen der AKP, wie der einstige Staatspräsident Abdullah Gül und einige andere, haben darauf gewartet, dass Erdoğan nach der Wahl im Juni nun ein zweites Mal verlieren werde. Dann wären sie womöglich hervorgetreten. Doch was werden sie jetzt tun? Werden sie eine eigene Partei gründen, oder werden sie sich endgültig zurückziehen? Das ist eine offene Frage.
Werden nach Erdoğans Sieg nun auch die Übergriffe gegen Journalisten und Medienhäuser ihre Fortsetzung finden?
Lagendijk: Ich fürchte, das könnte die dramatischste Folge dieses Wahlergebnisses sein. Es wurde ja bereits vor der Wahl darüber spekuliert, die Übernahme der Zeitungen und Sender der Ipek-Holding Ende Oktober sei nur die erste Welle einer Reihe von Übergriffen gegen unabhängige Medien gewesen, bevor es große oppositionelle Zeitungen wie "Hürriyet", "Zaman" und "Sözcü" treffen werde. Andererseits könnte die Regierung diese Angriffe jetzt auch einstellen – sie hat schließlich gesehen, dass sie auch gegen den Widerstand dieser Zeitungen die Hälfte der Stimmen gewinnen kann.
Noch im vergangenen Jahr hofften viele, die AKP werde den Weg zu einer dauerhaften politischen Lösung des Kurdenkonflikts in der Türkei ebnen. Kann das Wahlergebnis ein neuer Anlauf dazu sein?
Lagendijk: Einer der Gewinner dieser Wahl ist die PKK. Dass die PKK wieder zu den Waffen gegriffen hat, war ein wohlkalkulierter Versuch, die HDP zurückzudrängen. Das Muster ist aus anderen Konflikten bekannt: Wenn gewählte Politiker in einem Konflikt das Heft in die Hand nehmen – und die HDP war auf einem guten Weg dazu –, dann schätzen das die Radikalen in den Bergen überhaupt nicht.
Bei der PKK wusste man genau, dass man der HDP schaden werde, wenn man wieder zu den Waffen greift – und genau so kam es dann ja auch. Die Frage ist nun: Wird die HDP sich wehren? Wird sie versuchen, die Hardliner der PKK in die Schranken zu weisen? Oder sind die Politiker der HDP jetzt so geschwächt, dass sie nicht die Führung übernehmen können? Ich hoffe, dies ist der Beginn einer Debatte in der kurdischen Nationalbewegung darüber, dass es ein großer Fehler war, wieder zu den Waffen zu greifen.
Muss es nicht vor allem eine Debatte darüber geben, wie sich die HDP stärker von der PKK emanzipieren kann?
Lagendijk: Unbedingt. Diese Wahl war eine Lektion für die HDP, wie sie sich zur Gewalt der PKK verhalten sollte. Die HDP ist gespalten zwischen Hardlinern, die nie auch nur auf den Gedanken kommen würden, sich von der PKK loszusagen, und Politikern, die eine distanziertere Position dazu haben. Aber diese zweite Gruppe war nicht sichtbar genug für jene Kurden, die nun wieder für die AKP gestimmt haben.
Durch die Flüchtlingskrise ist die Türkei wieder zu einem gefragten Gesprächspartner für Europa geworden. Wie wird sich das auf die EU-Beitrittsverhandlungen auswirken?
Lagendijk: Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission wird dieser Tage veröffentlicht werden. Er wird ziemlich kritisch sein, in der Türkei aber nicht für viel Aufsehen sorgen, da man diese Berichte hier schon seit Jahren nicht mehr sonderlich ernst nimmt.
Die Verhandlungen mit der EU werden sich um die Flüchtlingskrise drehen. Erdoğan ist jetzt in einer noch stärkeren Position als er es ohnehin schon war in dieser Frage. Europa will etwas von ihm, und er wird als Gegenleistung nun noch mehr fordern. Worum geht es da? Um Geld? Da wird sich immer ein Kompromiss finden lassen. Um visafreies Reisen für Türken?
Da werden die Vorbedingungen, die die Türkei erfüllen muss, nicht geändert werden, denn die sind insbesondere für Frankreich und Deutschland, aber auch für einige andere Länder, nicht verhandelbar.
Dann gibt es aber noch die Forderung, einige heikle Kapitel der Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Ich war überrascht, dass die Türkei die Forderung nach Öffnung der Kapitel 23 und 24 über Justiz und Grundrechte überhaupt aufgebracht hat. Wenn sie dabei bleibt, wäre es schwierig für die EU, das abzulehnen – denn das ist doch das, was sie immer wollte. Das könnte die beste Folge dieser Wahl sein.
Die Fragen stellte Michael Martens.
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015
Der Niederländer Joost Lagendijk studierte Geschichte in Utrecht und war von 1998 bis 2009 für die niederländischen Grünen Abgeordneter im Europäischen Parlament. Dort war er unter anderem sieben Jahre lang Vorsitzender des Türkeiausschusses. Seit seinem Ausscheiden aus der Politik 2009 lebt er in der Türkei und gilt als einer der besten ausländischen Kenner des Landes. Lagendijk ist Kolumnist für die türkische Tageszeitung "Zaman".