Revolution gegen Konterrevolution

Vor rund einem Jahr durften die Menschen in Tunesien zum ersten Mal frei wählen. Inzwischen ist ihre Begeisterung aber dem Frust gewichen. Die Regierung fürchtet ihr Scheitern, die Opposition hofft auf ihre Chance.

Von Sarah Mersch

"Weg mit der Miliz" rufen die Demonstranten auf der Avenue Bourguiba, der Flaniermeile von Tunis. Einige Tausende sind es, die vergangene Woche vors Innenministerium gezogen sind, um ihrem Ärger Luft zu machen. Dort, wo am 14. Januar 2011 die große Demonstration stattgefunden hatte, kurz bevor der ehemalige Machthaber Ben Ali die Flucht ergriffen hatte, fordern sie jetzt den Rücktritt des Innenministers.

Auf die Straße getrieben hat die Demonstranten der Tod eines Funktionärs der Partei Nida' Tounes ("Der Ruf Tunesiens"), die vom ehemaligen Premierminister Tunesiens, Beji Caid Essebsi, gegründet wurde. Der Funktionär kam bei Ausschreitungen in Tataouine, im Süden des Landes, unter nach wie vor ungeklärten Umständen ums Leben.

​​Essebsi macht für den Tod des Parteimitglieds Milizen verantwortlich, die Ennahdha, die der größten der drei Regierungsparteien, nahe stehen sollen. "Wir bezahlen heute den Preis für die gesegnete Revolution, wir bezahlen heute mit Blut für die Demokratie und für den Erfolg der demokratischen Transition." Bei dem Todesfall handele es sich um den ersten politischen Mord nach der Revolution, so Essebsi.

Heilsbringer oder Anhänger Ben Alis?

Der Tod des Lokalpolitikers markiert den vorläufigen Höhepunkt der politischen Auseinandersetzungen zwischen der Regierungskoalition, die von der moderat islamistischen Ennahdha-Partei dominiert wird, und der tunesischen Opposition. Dort hat Nida' Tounes in kurzer Zeit an Boden gewonnen.

Die Partei um Beji Caid Essebsi, der als Premierminister den Mittelmeerstaat bis zu den Wahlen geführt hatte, ist zum Sammelbecken all derer geworden, die ein Gegengewicht zu Ennahdha schaffen wollen. Von liberalen Islamisten bis zur Linken sind dort fast alle politischen Strömungen zu finden. In den letzten Umfragen liegt Nida' Tounes bei 28 Prozent - fast soviel wie Ennahdha, die auf nur noch 30 Prozent der Stimmen kommen würde.

Doch bei Nida' Tounes sind auch viele Mitglieder Ben Alis ehemaliger Mehrheitspartei RCD dabei, wirft Faycel Nacer, Sprecher von Ennahda, der Partei vor. "Nida' Tounes ist ein gutes Beispiel für den Einfluss des alten Regimes. Da gibt es viele Linksextreme, die früher mit Ben Ali zusammengearbeitet haben", betont er. Die schweren Vorwürfe von beiden Seiten sind vor allem politische Taktiererei, wirft die Zivilgesellschaft den Parteien vor.

Demonstrant in der Avenue Habib Bourguiba in Tunis am 22. Oktober 22; Foto: Reuters
Auswege aus der ökonomischen Krise und der zunehmenden politischen Polarisierung des Landes: Viele Bürger fordern inzwischen, dass die Parteien zusammenarbeiten, um die Probleme in den Griff zu bekommen; Foto: Reuters

​​Die wirklich wichtigen Fragen blieben jedoch ungelöst: Der Verfassungsentwurf ist immer noch nicht fertig, und um den nächsten Wahltermin wird ebenfalls noch gestritten. Die Justizreform kommt nur schleppend voran und im Polizeiapparat ziehen immer noch die Funktionäre aus der Zeit des gestürzten Herrschers Zine El Abidine Ben Ali die Strippen.

Die Zivilbevölkerung als Opfer des politischen Konflikts

Und auch die wirtschaftlichen Probleme, die maßgeblich zu den Aufständen Anfang 2011 beigetragen haben, sind nach wie vor vorhanden: Die Arbeitslosigkeit im Landesinneren liegt in manchen Gegenden bei bis zu 50 Prozent, die Lebensmittelpreise steigen, die Devisenreserven der Zentralbank liegen bei gerade mal drei Monaten. Nach dem Angriff auf die US-Botschaft im September sind die Touristen erneut weggeblieben, nachdem dieser wichtige Wirtschaftszweig, von dem mehr als eine halbe Million Tunesier abhängen, sich gerade langsam zu erholen begann.

Viele Bürger fordern, dass die Parteien zusammenarbeiten, um diese Probleme in den Griff zu bekommen. Sie fürchten, dass die Bevölkerung zum Opfer der Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition wird und am Ende genau so schlecht dastehe, wie vor der Revolte.

Der Philosoph und Journalist Youssef Seddik, einer der prominentesten Vertreter der Zivilgesellschaft, will die Hoffnung jedoch nicht aufgeben. "Hier kämpft die Revolution gegen die Konterrevolution. Ich hoffe, dass wir das in zwei, drei Jahren überstanden haben. Aber ich bin sehr optimistisch." Der Prozess ist im Gange, meint er. Und die Französische Revolution habe schließlich auch ihre Zeit gebraucht.

Sarah Mersch

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de