"Die Ankunft des Königs führt zum Untergang des Dorfes"
Seine ganzen Ersparnisse hat Noor Nazrabi in sein Buch "Afghanische Redensarten und Volksweisheiten" gesteckt. "Und meine ganze Liebe, deshalb habe ich auch keine Freundin", sagt er breit lächelnd, während er in einem Hamburger Unicafé über sein erstes eigenes Werk erzählt. Der 30 Jahre alte Nazrabi arbeitet als interkultureller Trainer, hat Marketing und Kommunikation studiert und für die Buchreihe eigens den Afghanistik Verlag gegründet.
"Viele Menschen interessieren sich in Deutschland für Afghanistan, aber sie hören immer nur von Krieg und Konflikten. Doch es gibt noch viele andere Seiten, von denen ich eine der schönsten zeigen wollte", sagt er.
Die 200 Seiten des Nachschlagewerks sind in insgesamt acht Kapitel aus den unterschiedlichen Lebensbereichen unterteilt. Es geht um Gott und den Glauben, den Menschen und die Gesellschaft, ebenso wie um den Zyklus des Lebens. Alle Sprichwörter sind alphabetisch geordnet, in Dari und lateinischer Umschrift sowie Übersetzung aufgeführt. Weil nicht alle Sprichwörter selbsterklärend sind, liefert der Autor jeweils eine Interpretation dazu.
Redensarten als pädagogische Maßnahme
So erfährt der Leser, dass die Redensart "Die Ankunft des Königs führt zum Untergang des Dorfes" im übertragenen Sinne meint, das nicht jeder zum Regieren geeignet sei. Und er entdeckt – wenn auch erst auf den zweiten Blick – so manche Parallele zu deutschen Sprichwörtern. So sagt der Afghane zum Beispiel "Die Welt vergeht in Hoffnung essen", was so viel bedeutet wie: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
"Redensarten werden in Afghanistan oft auch als pädagogisches Mittel eingesetzt", fährt Noor Nazrabi fort, blättert durch das Buch und zeigt auf den Spruch "Eigentum ist wie Salzwasser". "Das bedeutet, wenn man Geld hat, strebt man nach immer mehr, aber das ist nicht gut. Man sollte von Habgier Abstand nehmen."
Dass Sprichwörter und Volksweisheiten in Afghanistan vor allem in der älteren Bevölkerung immer noch einen enormen Stellenwert haben, liegt aus Sicht des Autors vor allem an der schlechten Bildungssituation vieler Menschen. 70 Prozent könnten nicht schreiben und lesen, bei den Frauen seien es sogar noch mehr. "Viele Menschen glauben an die Weisheiten, handeln nach ihnen. Sie geben auch Auskunft über die innerliche Befindlichkeit einer Person", erklärt Nazrabi.
Die gebackene Frau
Interessant sind unter anderem die Kapitel über die Männer- und Fraueneigenschaften. Dem Mann werden Eigenschaften wie Stärke und Mut zugeschrieben, den Frauen eher Schwatzhaftigkeit. Manches lässt einen auch schmunzeln wie zum Beispiel die Zuschreibung "gebackene" Frau, was Nazrabi mit "kluge und intelligente" Frau übersetzt. Im Deutschen würde man vielleicht eher sagen: eine "gestandene" Frau.
Diskriminierende Floskeln sowie Plattitüden hat der Autor bewusst ausgeschlossen, wie es im Vorwort heißt. Dennoch gibt es einige geschlechterabwertende Sprichworte wie "Treue dem Hund, Untreue den Frauen", ein Sprichwort über die Untreue der Frauen. Der Autor hat Redensarten wie diese entsprechend gekennzeichnet.
Für sein Werk ist der Autor extra in seine alte Heimat gereist. Er war in alten Bibliotheken, hat Professoren in Afghanistan kontaktiert und viel mit Bekannten und Verwandten gesprochen. Sein Nachschlagewerk sei in dieser Ausführlichkeit einzigartig, ist er sicher. Es ist das erste von insgesamt vier Bänden, je zwei in Deutsch-Dari und in Deutsch-Paschtu sind geplant.
"Die Kultur auch im Exil zu erhalten"
Noor Nazrabi möchte seinem Volk, das so lange im Krieg gelebt hat, damit ein Stück Identität zurückgeben. "Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, der sich gerade findet. Die Redensarten können dazu beitragen, sich der eigenen, gemeinsamen Kultur und Herkunft bewusst zu werden", hofft er.
Zugleich ist das Buch für junge Afghanen und Afghaninnen in Deutschland gedacht. "Viele haben keinen richtigen Bezug mehr zur Kultur und Heimat ihrer Eltern, weil sie selbst in Deutschland geboren und aufgewachsen sind" und vielleicht könne sein Buch ihnen ja Lust darauf machen, sich wieder mehr damit zu beschäftigen, hofft der Deutsch-Afghane.
Lust auf Lesen macht das Buch allemal, auch weil es durch die Illustratorin Moshtari Hillal immer wieder Neues zu entdecken gibt. Mit ihren mal fein, mal fett gezeichneten Figuren, einzelnen hervorgehobenen Redewendungen in Deutsch und Dari hat das Buch etwas Uneinheitliches, so wie Afghanistan mit seinen vielen Völkern.
Ein Dankeschön an Deutschland
Der aufmerksame Leser wird an einzelnen Stellen feststellen, dass hier und da ein Wort fehlt oder vielleicht auch über den einen oder anderen Begriff stolpern, der so im Deutschen unüblich ist.
Das erstaunt zunächst, weil die Akribie dieses Nachschlagwerks auf jeder Seite erkennbar ist. Aber es steckt eben kein großer Verlag mit einem professionellen Lektorat dahinter, sondern dies ist das Ergebnis einer Herzensangelegenheit von Noor Nazrabi. Das Buch ist im wahrsten Sinne des Wortes eine doppelte Liebeserklärung – an seine alte Heimat Afghanistan und an seine neue: Deutschland.
Einen schöneres Dankeschön eines Einwanderers an die Bundesrepublik kann es eigentlich kaum geben, denn Noor Nazrabis Buch ist zugleich der Beweis für eine gelungene Integration. In dem neuen Land ankommen ohne seine Herkunftskultur hinter sich zu lassen.
Kathrin Erdmann
© Qantara.de 2014
Noor Nazrabi: "Afghanische Redensarten und Volksweisheiten", Illustrationen von Moshtari Hillal Afghanistik Verlag 2014, ISBN 978-3-945348-00-0