Warnung vor der schwarzen Welle des Islamismus
Es ist nach drei Uhr morgens, als Fadhel Jaibi die Proben im römischen Amphitheater von Dougga unterbricht. Am folgenden Tag zeigt er hier zum ersten Mal vor größerem Publikum in seinem Heimatland Tunesien sein neues Stück "Tsunami".
Die Anspannung ist groß: Der ungewohnte Rahmen zwingt den Regisseur, sein Stück aufs Essentielle zu reduzieren, auf Videoprojektionen, Licht und Kulissen zu verzichten. Bei Tageslicht spielen seine Schauspieler auf der antiken Bühne im Nordwesten des Landes, wo Fadhel Jaibi selbst in seiner Jugend das klassische Theater entdeckt hat.
Zusammen mit seiner Partnerin Jallila Baccar, die die Texte seiner Stücke schreibt, gehört Jaibi zu den großen Figuren des arabischen Gegenwartstheaters. Schon vor dem Umbruch in Tunesien machte er engagiertes, politisches Schauspiel, in dem er subtil, aber deutlich die politischen Machthaber kritisierte.
"Tsunami" ist das letzte Stück einer Trilogie, in der Baccar und Jaibi die politische Lage in Tunesien sezieren. Nach "Khamsoun" und dem beinahe prophetischen "Amnesia" (Yahia Ya'ich), in dem sie 2010 den Fall eines Despoten in Szene setzten, ist "Tsunami" das erste Stück, das nach dem 14. Januar 2011, der Flucht des ehemaligen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali, entstanden ist. Und es ist mittendrin in den Identitätsfragen, die in Tunesien gegenwärtig debattiert werden.
Die Angst vor und der Kampf gegen die Islamisten
Dorra, eine Mittzwanzigerin, flieht vor ihrer Familie, als diese sie gegen ihren Willen verheiraten will. Ihr Weg kreuzt den von Hayet, einer linken Aktivistin in ihren Sechzigern, die der jungen Frau gleichzeitig Zuflucht und Reibungsfläche bietet.
Gemeinsam ist ihnen die Angst vor und der Kampf gegen die Islamisten, über ihre Mittel können sie sich jedoch nicht einigen. Vor ihren Augen gleitet ihre Umgebung in einen Bürgerkrieg – einer Entwicklung, der die Protagonistinnen hilflos, wie versteinert zusehen.
In einer Serien von Bildern erinnert "Tsunami" an politische Ereignisse, die Tunesien in den letzten zweieinhalb Jahren geprägt haben. Immer wieder lösen sich aus den präzise choreographierten Gruppenszenen einzelne Schauspieler, um die Verbindung zwischen der Geschichte von Dorra und Hayet und dem politischen Kontext herzustellen: der Mord an dem Oppositionellen Chokri Belaid im Februar 2013 hat dabei ebenso seinen Platz im Stück wie die Proteste von Siliana. In der Kleinstadt war die Polizei im November 2012 brutal gegen Demonstranten vorgegangen. Viele wurden dabei von Schrotkugeln verletzt.
Bei Jaibi protestieren die Bürger von Siliana, Binden vor den verletzten Augen, mit leeren Plakaten. Ihre sozialen Forderungen interessieren nicht – nicht die tunesische Regierung und Opposition, aber auch nicht Fadhel Jaibi und Jallila Baccar, die in "Tsunami" der Logik der Politik folgen und sich ebenfalls primär mit Identitätsdebatten beschäftigen.
Kein Platz für Zwischentöne
Es gehe ihm darum, vor einem islamistischen Staat zu warnen, betont Jaibi, wenn er über "Tsunami" spricht. Die Linien in seinem Stück sind gerade gezogen, die Rollen klar verteilt. Die Islamisten bilden eine uniforme Masse, in schwarze Gewänder gehüllt. Ihnen gegenüber stehen die Säkularen, jeder in einem einfarbigen, kräftigen Oberteil. Für Zwischentöne bleibt da wenig Platz.
Die Stilisierung der Auseinandersetzungen um die politische Orientierung und den öffentlichen Raum in Tunesien sind typisch für "Tsunami", dass die Subtilität früher Arbeiten des Künstlerpaares Jaibi/Baccar vermissen lässt.
Das Stück arbeitet sich an neuen Feindbildern ab, doch der Umgang mit der Zeit nach der Diktatur ist oft holzschnittartig. Mit erhobenem Zeigefinger warnt Jaibi sein Publikum vor den Islamisten – für eine differenzierte Analyse scheint dem Theatermacher die Distanz zu fehlen zu den täglichen Auseinandersetzungen, die über das Stück Besitz ergreifen.
In sein erstes Stück nach der Revolution packt der Regisseur all das, was er vorher nicht, oder nur verschlüsselt sagen konnte. "Tsunami" ist daher nicht nur eine Warnung vor der schwarzen Welle des Islamismus, die Jaibi über Tunesien hereinbrechen sieht, sondern auch ein Schwall an Worten, an Ängsten, an Dringlichkeit. Vielleicht wird sein nächstes Werk weniger überfrachtet sein und zu alter Subtilität zurückfinden.
Sarah Mersch
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de