"Die Welt leidet unter Führungsmangel"
Dieses Jahr feiert das West-Eastern Divan Orchester sein 15-jähriges Bestehen. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Daniel Barenboim: Aus künstlerischer Sicht ist es eine sehr positive Bilanz. Anfangs war es noch ein Jugendorchester, in dem die Qualität der Musiker unterschiedlich war. Das hat sich später angeglichen. Heute beherrscht es ein breites Repertoire, das es auf großen Bühnen aufführt wie bei den Salzburger Festspielen, in Berlin, London… Auf der nicht musikalischen Ebene sind die Ergebnisse weniger beeindruckend. Die wahre Größe des West-Eastern Divan wird erst an dem Tag erreicht werden, an dem es in Libyen, Syrien, Jordanien, Ägypten, Israel, Palästina, der Türkei und dem Iran auftreten kann - in den Ländern, aus denen die Musiker stammen. 2005 haben wir einmal in Palästina gespielt, doch das wäre heute undenkbar.
Im vergangenen Sommer hat sich die Lage im Nahen Osten dramatisch zugespitzt. Hatte das Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Orchestermitglieder?
Barenboim: Manche waren unschlüssig, ob sie anreisen sollten. Am Ende sind alle gekommen, doch die ersten Tage waren nicht leicht, weil die Israelis und die Palästinenser sehr unterschiedliche Ansichten über den Gaza-Krieg hatten. Es gab sehr schwierige Momente. Aber man kann nicht erwarten, dass ein Palästinenser Empathie für eine israelische Familie empfindet, die sich bedroht fühlt, oder dass ein Israeli Empathie für die grausamen Geschehnisse in Gaza empfindet. Beim Mitleid ist das anders. Sympathie und Empathie sind emotionale Reaktionen, aber Mitleid ist eine moralische Pflicht. Ich habe zu ihnen gesagt: "Wenn es hier einen Israeli gibt, der kein Mitleid mit den Palästinensern hat, oder einen Araber, der kein Mitleid für die Israelis empfindet, dann ist er in diesem Orchester fehl am Platz". Die Interpretation der historischen Ereignisse und die moralische Pflicht des Mitleids sind zweierlei Sachen.
Kam es zu einer Debatte zwischen den Musikern?
Barenboim: Wir verfolgen kein politisches, sondern ein menschliches Projekt. Wir streben nicht nach einem politischen Konsens zwischen den Orchestermitgliedern. Das wäre bei 120 Personen ausdieser Region auch gar nicht möglich. Aber wir versuchen, dass sie die Sichtweise des Anderen akzeptieren, darüber nachdenken und sich bemühen, sie zu verstehen - vor allem, wenn man nicht ganz damit einverstanden ist.
Die Deutsche Welle hat vor Kurzem den israelischen Schriftsteller Amos Oz inteviewt. Dieser eröffnete das Gespräch mit einer Frage: "Was würden Sie tun, wenn sich Ihr Nachbar auf dem Balkon gegenüber seinen kleinen Jungen auf den Schoß setzte und dann begänne, mit einem Maschinengewehr in Ihr Kinderzimmer zu feuern?" Herr Barenboim, hätten Sie eine Antwort auf diese Frage?
Barenboim: Viele Menschen in Israel, nicht alle, stellen nur zu gerne Fragen über die Pflichten des Anderen, aber selber fragen sie sich nicht nach ihren eigenen Pflichten. Wenn wir von Geschichte sprechen, können wir uns nicht nur auf den vergangenen Monat Juli beziehen, wir müssen viel weiter zurückgehen. Die Geschichte beginnt, um es in einen angemessenen Rahmen einzuordnen, zu Zeiten des Ersten Weltkrieges, als die jüdische Bevölkerung in Palästina weniger als 15 Prozent ausmachte. Wie kam es dazu, dass sie einen eigenen Staat besitzt und die Palästinenser in ihrem eigenen Land zu Flüchtlingen wurden und die Minderheit darstellen?
Man muss an beide Seiten Fragen stellen. Was die Vergangenheit betrifft, gibt es leider keine eindeutige und kohärente Antwort für beide. Was bleibt übrig von der Invasion Gazas, unabhängig davon, ob sie nun gerechtfertigt bzw. angemessen war oder nicht? Unzählige Tote sind zu beklagen, unter ihnen auch Kinder. Und es wurde Hass geschürt, der über mehrere Generationen hinweg nur sehr schwer abzulegen sein wird. Es ist bereits nicht leicht, vom Hass zwischen den Erwachsenen zu sprechen, aber vom Hass unter Kindern… Die Operation in Gaza hatte für die Palästinenser viel Leid zur Folge. Das Ergebnis für Israel ist, dass es sich wieder am Ausgangspunkt befindet. Der ehemalige spanische Ministerpräsident Felipe González nannte es ein "ständiges Unentschieden".
Glauben Sie, dass der Konflikt nach den Geschehnissen vom vergangenen Sommer auf internationaler Ebene mit anderen Augen gesehen wird? Schweden hat Palästina nun als Staat anerkannt, Großbritannien führte eine symbolische Abstimmung dazu durch, und Frankreich kündigte Pläne an, Palästina ebenfalls anzuerkennen, falls die Friedensbemühungen scheitern sollten.
Barenboim: Die internationale Wahrnehmung ist wichtig, aber am Ende ist die Lebensqualität der Menschen in der Region das Dringlichste. Was Israel betrifft, ist der Druck von außen recht schwach. Man muss die Sachen beim Namen nennen. Wenn die USA wollten, könnten Sie den Konflikt in drei Tagen lösen, indem sie Druck auf die israelische Regierung ausüben - ich rede nicht vom israelischen Staat, sondern von der israelischen Regierung. Die ganze westliche Welt hat sich dazu verpflichtet, die Existenz und Sicherheit Israels zu garantieren. Das ist fair, vor allem nach dem Holocaust. Aber diese Garantie sichert nichts außer dem bereits erwähnten "ständigen Unentschieden", unter dem die ganze Welt leidet. Falls die internationale Gemeinschaft ernsthaft, aufrichtig, ehrlich und entschieden daran interessiert ist, sich des jüdischen Schicksals anzunehmen, muss sie sich im Klaren darüber sein, dass sie nur dazu beitragen wird, das "ständige Unentschieden" zu halten, wenn sie die Politik der israelischen Regierung unterstützt.
2010 nannten Sie eine Reihe von Richtlinien, mit denen sich die Vereinigten Staaten des Konfliktes annehmen sollten. Seitdem ist einige Zeit vergangen. Haben Sie von der Nahost-Politik Obamas mehr erwartet?
Barenboim: Ich erinnere mich an seine Rede in Kairo. Damals dachte ich zum ersten Mal, dass man endlich ein Licht am Ende des Tunnels sehen würde. Aber die Realität hat sich auf Grund dieser Rede nicht verändert. Der Diskurs hat sich seitdem allerdings der Realität angepasst.
Der Gaza-Konflikt ist in der medialen Berichterstattung in den Hintergrund getreten. Befürchten Sie, dass er auch auf politischer Ebene an Bedeutung verliert, angesichts dringlicherer Bedrohungen wie dem Islamischen Staat und der Ebola-Epidemie?
Barenboim: Seit dem Mauerfall vor 25 Jahren leidet die Welt unter einem Führungsmangel. Während des Kalten Krieges gab es ein Gleichgewicht. Danach wandte sich alles der einen Seite zu, und der Westen trat mit einem unkontrollierbaren Siegesgehabe auf, als ob der Kapitalismus die Antwort auf jegliches Leid dieser Welt wäre. Mit dem Verlust der Hegemonie und der moralischen Autorität der Vereinigten Staaten befinden wir uns in einem einmaligen Moment in der Geschichte, in dem verschiedene Konflikte wie der Islamische Staat, der Terrorismus in Afghanistan, die Situation in der Ukraine oder der arabisch-israelische Konflikt immer wieder anschwellen und sich gegenseitig abwechseln. Das liegt jedoch nicht daran, dass die Führungspersonen dieser Welt sich der Probleme nicht annehmen, sondern daran, dass wir einfach keine Führungsmacht haben. Das ist das Schlüsselproblem, das ich seit dem Mauerfall beobachte.
Herr Barenboim, Sie sind einer der wichtigsten lebenden Musiker. Wieso glauben Sie, dass es so wichtig ist, sich neben der eigenen Arbeit auch noch anderen Problemen dieser Welt zu widmen?
Barenboim: Mein Freund Edward Said schrieb ein Buch über die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft. Said sagte, dass der Intellektuelle die moralische Verantwortung hat, das Establishment zu kritisieren. In der Welt der Musik gibt es viele Menschen, sowohl unter den Interpreten als auch im Publikum, die Musik für etwas Wunderbares halten und in einem Elfenbeinturm wohnen. Ich mag keine Elfenbeintürme. Ich habe das Gefühl, dass ich eine Verantwortung mit dem West-Eastern Divan Orchester habe. Die Demokratie, die wir in diesem Teil der Welt genießen, verleiht uns Rechte, erlegt uns aber auch Pflichten auf.
Würden Sie sich auch in der Politik engagieren?
Barenboim: Auf keinen Fall. Als Bürger habe ich das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und hier kommen wir zu dem gefährlichen Thema des Antisemitismus. Es kann nicht sein, dass ich automatisch als Antisemit bezeichnet werde, weil ich die israelische Regierung kritisiere. Zwei Sachen dürfen wir nämlich nicht vergessen: Zum einen sind die Palästinenser genauso Semiten wie wir Juden, und zum anderen wird das Handeln einer Regierung und nicht ein Volkes kritisiert.
Das Interview führte María Santacecilia
© Deutsche Welle 2014
Zusammen mit dem Intellektuellen Edward Said gründete der Orchesterdirigent Daniel Barenboim (1942 in Buenos Aires, Argentinien, geboren) 1999 das West-Eastern Divan Orchester. Dieses Orchester bringt Musiker aus Spanien, Palästina, Israel, Libanon, Syrien, Jordanien, Ägypten, der Türkei und dem Iran zusammen. Seit 1992 ist er Chefdirigent der Staatsoper unter den Linden (Berlin), und seit 2011 dirigiert er auch an der Scala in Mailand. Desweiteren verfolgt er seine Karriere als Pianist auf den großen Bühnen dieser Welt.