Fluch oder Segen?
Anders als man denkt, sind die wichtigsten Reichtümer Libyens nicht die Ölquellen, sondern Wasser. Das weltweit größte Reservoir fossilen Süßwassers liegt unter dem Boden seiner Wüsten. Dieser Grundwasserleiter versorgt das Land mittels eines riesigen Pipelinesystems mit Trinkwasser und mit Wasser für die Landwirtschaft.
Libyens "Great Man-Made River" (GMMR) transportiert momentan fast 2,5 Million Kubikmeter Wasser täglich. Es fließt durch ein unterirdisches Netzwerk von Pipelines vom Nubischen Sandstein-Aquifer-System in der Großen Sahara zu den urbanen Zentren an der Küste, einschließlich Tripolis und Bengasi. Die Distanz reicht über 1.600 Kilometer. Der GMMR speist 70 Prozent allen Süßwassers, das in Libyen genutzt wird.
Mit Ausnahme eines grünen, fruchtbaren Streifens entlang der Mittelmeerküste ist Libyen eine riesige Wüste mit einigen verstreuten Oasen. Regen fällt nur auf fünf Prozent seiner Oberfläche. Es gibt keinen Fluss, der durchgängig das ganze Jahr Wasser führt. Wasserknappheit war immer ein großes Problem.
Die Lösung wurde in den 1950er Jahren per Zufall gefunden, als Ölfirmen in der libyschen Wüste nach Rohöl bohrten. "Sie entdeckten Becken, die einen riesigen Wasservorrat enthielten", berichtet der Geologe Zakaria al-Keep. "Das war fossiles Süßwasser, das Tausende von Jahren unterirdisch gespeichert war."
Die libyschen Forscher waren begeistert. Sie hatten vorher bereits Verschiedenes getestet, um Trinkwasser zu generieren, etwa die Entsalzung von Meerwasser oder den Import von Wasser aus Europa via Pipelines oder Schiffen. Nun eröffnete sich aber ein neuer Weg: Die Ausbeutung fossiler Wasserreserven aus vier unterirdischen Wüstenbecken – Sarir und Kufra im Südosten und Murzuq und Jabal Hasawanain im Südwesten. Die Idee des GMMR war geboren.
Ein Prestigeprojekt Gaddafis
Am 28. August 1984 legte der ehemalige libysche Diktator Muammar al-Gaddafi den Grundstein in Sarir. Der Plan sah vor, 1.350 Brunnen zu bohren, verteilt über die vier Becken.
Viele dieser Brunnen sind bereits in Gebrauch. Die meisten sind über 500 Meter tief und mit der Küste durch Betonzylinderröhren verbunden. Jede Röhre misst sieben Meter und vier Meter im Durchmesser. Insgesamt sind mehr als 4.000 Kilometer Pipelines verlegt worden. Sie transportieren sechs Millionen Kubikmeter Wasser pro Tag. Zusätzliche 2.000 Kilometer sind geplant.
Der Great Man-Made River ist weltweit das größte Bewässerungsprojekt, das je durchgeführt wurde. 1999 verlieh die UNESCO Libyen sogar einen Preis für bemerkenswerte wissenschaftliche Forschung bezüglich Wassernutzung in Wüstengebieten.
Die Infrastruktur gehört der GMMR Project Authority. Das Haupt-Bauunternehmen für die ersten Phasen in der Gaddafi-Ära war das Dong Ah-Konsortium. Augenblicklich ist Al-Nahr die zentrale Baufirma. Beides sind lokale libysche Bauunternehmen. Koreanische und australische Firmen haben einige technischen Teile zugeliefert.
Bis jetzt hat Libyen es geschafft, den GMMR ohne finanzielle Hilfe anderer Länder oder Bankkredite zu bauen. Steuern auf Tabak und Benzin trugen dazu bei, das Geld zusammenzutragen, ebenso wie die Ölerträge. Die Gesamtkosten des GMMR betragen bisher mehr als 36 Milliarden US-Dollar. 2007 waren drei von fünf Projektphasen ausgeführt, die alle größeren Städte mit Wasser versorgen. Phase 4 ist weitgehend fertig, aber der Weiterbau wurde durch die Revolution 2011 und den nachfolgenden Bürgerkrieg unterbrochen.
Ungeklärte Auswirkungen auf die Umwelt
Dank der großen Wassermassen, die durch den GMMR fließen, ist nun Landwirtschaft in der Wüste möglich. Die Regierung investierte in sieben große Landwirtschaftsprojekte. Eines davon liegt südlich der Hauptstadt Tripolis. Dieses Projekt in der Jafara-Ebene ist 3.300 Hektar groß, unterteilt in 665 Farmen, wo verschiedene Zitrusfrüchte, Weizen, Gerste und Gemüse angebaut werden. Es gab auch Pläne, Millionen von Palmen weiter im Süden anzupflanzen, aber die Kämpfe in der letzten Zeit haben die Weiterentwicklung unterbrochen.
Laut libyschem Gesetz sollen die Auswirkungen auf die Umwelt überprüft werden, bevor ein größeres Projekt angeschoben wird. Im Fall des GMMR fand dies nicht statt, sagt Khalifa Elawej, ein Berater der Umweltbehörde. Die politische Entscheidung, mit dem Bau loszulegen, beruhte auf "akutem Wassermangel". Zu diesem Zeitpunkt kostete fossiles Wasser nur ein Zehntel von entsalzenem Wasser. Bis heute sind die Auswirkungen auf die Umwelt nicht untersucht worden.
Laut Elawej ist es unmöglich, diese Auswirkungen zu kennen, weil die entsprechenden Daten nicht vorhanden sind; dafür seien mehrere Studien notwendig. Die positiven Aspekte des Projektes stellen sich für Elawej wie folgt dar:
1. Der GMMR trug dazu bei, die grünen Zonen im Norden und Westen des Landes zu vergrößern, so dass weitergehende Desertifikation eingedämmt wird.
2. Durch die grünen Zonen wird das Wetter gemäßigter.
3. Traditionelle Wasserquellen im Norden werden geschont, da die Menschen nun Zugang zum Wasser des GMMR haben.
4. Die landwirtschaftliche Produktion ist erhöht.
Allerdings ergeben sich auch folgende Nachteile:
1. Die Umwelt in der Wüste, wo das fossile Wasser entnommen wird, kann geschädigt werden.
2. Das Pipeline-Netzwerk selber kann die Umwelt zerstören.
3. Ein Teil des Wassers wird in offenen Becken aufbewahrt, das bei Verdunstung zu Versalzung führt. Der Salzgehalt des GMMR-Wassers ist entsprechend internationalen Standards recht hoch, allerdings nicht so schlecht wie bei den traditionellen Brunnen im Norden, die durch einströmendes Meereswasser versalzen.
4. Da das meiste – vielleicht sogar das gesamte – fossile Wasser nicht erneuerbar ist, werden begrenzte Ressourcen aufgebraucht.
Im libyschen Bürgerkrieg hat der GMMR ernsthafte Schäden erlitten. Während der Revolution im Jahr 2011 bombardierten NATO-Flugzeuge die Pipelines in Brega. Sie zielten auch auf eine Röhrenfabrik, möglicherweise, um Gaddafis Truppen vom Wassernachschub abzuschneiden. In jüngerer Zeit gab es Sabotage-Akte im Süden. Im März 2017 warnte die GMMR-Administration, dass wiederholte Attacken auf die Brunnen in Jabal Hasawna dazu führen könnten, dass es in Tripolis und anderen nordwestlichen Städten kein Wasser mehr gäbe.
Moutaz Ali
© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 2017
Der Autor ist Journalist und lebt in Tripolis.