Kampf dem Kulturverlust
Der Scharfschütze lauerte in einem provisorischen Unterschlupf aus alten Blechtonnen und Reifen. Ein tellergroßes Loch in der Wand reichte ihm aus, um den Platz vor sich zu überblicken - ein tödlicher Vorteil gegenüber jenen, die sich in seiner Schusslinie bewegten. Vor ihm erstreckte sich die sogenannte "Green Line". Im fünfzehnjährigen libanesischen Bürgerkrieg markierte sie die vorderste Front zwischen Ost- und Westbeirut.
Wie das Versteck des Scharfschützen damals aussah, kann man noch heute auf einer Fotografie im Beiruter Nationalmuseum betrachten. Das Foto neben dem zugemauerten Loch in einem Wandmosaik sind Mahnmale für das, was vor über 25 Jahren im Museum geschah.
Ein Museum als Kriegsschauplatz
"Während des Krieges diente das Museum als eine Art Bunker. Milizen verschanzten sich innerhalb seiner Mauern. Es bot ihnen einen großen strategischen Vorteil, denn das Gebäude lag entlang der Todeszone zwischen Ost- und Westbeirut", erzählt Madame Anne-Marie Afeiche, die Museumsdirektorin. Neben dem demolierten Wandmosaik finden sich im Museum weitere Spuren des Krieges. Ein fast zwei Meter hoher Koloss aus Kalkstein thront an einem Ende der Museumshalle. Ruß überzieht seine rechte Flanke: "Im Winter wurde es hier sehr kalt und die Milizen machten Feuer. Dabei haben sie auch unseren Koloss angekokelt."
Der Schutz des kulturellen Erbes in der arabischen Welt ist ein akutes Thema. Durch Krieg und Terrorismus wurden in den letzten Jahren viele Kulturstätten in Syrien und im Irak zerstört. Deshalb ist die Geschichte des Beiruter Nationalmuseums beispielhaft für den Kulturerhalt in konfliktreichen Zeiten. Denn trotz kleinerer Schäden überstanden die meisten Exponate den Bürgerkrieg.
Wettlauf gegen die Zeit
Treibende Kraft waren der damalige Museumsdirektor Maurice Shehab und seine Frau Olga. Die kleinen Objekte mauerten sie im Museumskeller ein. Eine wirkliche Herausforderung stellten die großen Ausstellungsstücke dar: Sandsäcke und Holzplanken zu ihrem Schutz, wurden immer wieder von den Milizen weggetragen. Schlussendlich entschied Shehab, die tonnenschweren Sarkophage und Statuen in meterhohen Betonblöcken zu verbergen.
"Zwanzig Jahre lang wusste niemand, wo die Kulturschätze des Nationalmuseums lagerten. Maurice Shehab nahm sein Geheimnis mit ins Grab. Es hinterließ keine Aufzeichnungen oder Schriften", sagt Afeiche. Sie selber gehörte zu einem kleinen Archäologenteam, das das Museum nach dem Krieg als erstes betrat. Die Überraschung war groß, als sich der Trupp 1996 entschied, die Betonblöcke sowie die Mauern im Keller zu öffnen.
"Das Nationalmuseum hatte einen brillanten Direktor, der vor allem Zeit hatte, die Kulturschätze zu schützen. Denn es kommt vor, dass trotz eines Notfallplans, zeitliche Probleme auftreten", betont Afeiche. Der Wettlauf gegen die Zeit und das Motiv für Kulturvandalismus sind entscheidende Faktoren für den Schutz kulturellen Erbes, bestätigt die libanesische Archäologin Joanne Farchakh Bajjaly: "Im libanesischen Bürgerkrieg gehörte die Kulturzerstörung zum Resultat des Krieges. Es wurde nicht willentlich verwüstet. Doch die Kriege in Irak und Syrien stehen unter anderen Vorzeichen. Hier wird kulturelles Erbe zum Angriffsziel."
Bajjaly beschäftigte sich seit Jahren in ihren Publikationen mit "Kulturvandalismus", der kein neues Phänomen in der arabischen Welt ist. Von 1998 bis zum Ende des Irakkrieges 2003 reiste sie mehrere Male in den Irak und dokumentierte die Beschädigung der Kulturstätten, die bombardiert oder geplündert wurden. Darunter waren auch das UNESCO-Weltkulturerbe Hatra und Nimrod, das IS-Milizen erst kürzlich mit Presslufthammern, Bulldozern und Sprengungen verwüsteten.
Schon während ihrer Arbeit im Irak vor über zehn Jahren kam Bajjaly zu einem ernüchterndem Ergebnis: "Kulturelles Erbe wiederherzustellen ist, wie wenn man versucht, einen Toten wiederzubeleben. Im Irakkrieg war ich Zeugin von etwas, was Historiker das Ende einer Zivilisation nennen würden. Heute sind wir durch die Medien alle Zeugen dieses unfairen Prozess."
Gegen den illegalen Handel von Exponaten
Bisher haben sich zwei Strategien im Kampf gegen den Kulturverlust bewährt: Prävention und die Kontrolle des illegalen Handels mit Antiquitäten. Noch bevor der IS die syrische Wüstenstadt Palmyra einnehmen konnte, wurden laut Aussage der UNESCO über 400 Statuen und Artefakte nach Damaskus transportiert. Um wiederum den Schmuggel von gestohlenen Kunstschätzen zu stoppen, arbeiten arabische Kultureinrichtungen eng mit nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden zusammen.
Auch das Nationalmuseum in Beirut beteiligt sich: "Es liegt in unserer Verantwortung, den illegalen Handel zu überwachen. Sobald wir Antiquitäten sichergestellt haben, bitten wir unsere syrischen oder irakischen Kollegen, diese zu identifizieren. So konnten wir in den Vorjahren viele Artefakte zurückgeben", sagt Afeiche.
Für Bajjaly gibt es noch einen dritten Weg: Aufklärung. Maurice Shehab hat es vorgemacht: er schätzte die Lage im Bürgerkrieg richtig ein und bewahrte die Kulturschätze im Nationalmuseum für nachkommende Generationen. Wie man kulturelles Erbe schützt, sollen heute auch schon die ganz Jungen lernen. "Biladi" - zu Deutsch: meine Länder - heißt die Organisation, die Bajjaly 2005 ins Leben rief. Das Konzept ist denkbar einfach: Jugendliche besichtigen Kulturstätte und lernen in Seminaren über historische Zusammenhänge.
Der Fokus der Organisation liegt darauf, dass die jungen Menschen eine eigene Verbindung mit ihrem geschichtlichen Erbe aufbauen. So, meint Bajjaly, könnte auch die ältere Generation von dem Wissen ihrer Kinder profitieren: "Meine Generation wuchs während des Krieges auf. Wir hatten keine Zeit, uns über den Kulturerhalt in unserem Land Gedanken zu machen. Hier im Libanon wollen wir den Jugendlichen heute beibringen, wie sie morgen ihr kulturelles Erbe schützen könnten."
Juliane Metzker
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