Inspiriert vom Göttlichen
Auch wenn uns viele davon überzeugen wollen, dass es sich beim Islam um ein einziges monolithisches Gebilde handelt, ist die Wahrheit doch viel komplizierter. Wie auch in anderen Religionen überall auf der Welt folgen die Gläubigen nicht nur unterschiedlichen Auslegungen der Orthodoxie, sondern es existieren noch zahlreiche individuelle Glaubenspraktiken innerhalb des Islam, die unter dem Schirm des Islam von Angehörigen vieler unterschiedlicher Staaten ausgeübt werden.
Wann immer in den letzten Jahren über den Islam berichtet wurde, war stets davon die Rede, dass bei denjenigen, die einer sehr engen Auslegung des Islam folgen, Musik verboten ist. Und doch gibt es im islamischen Kulturkreis eine lange Tradition, Musik zum Tanzen und auch zum Ausdruck ihrer Spiritualität einzusetzen.
Die wirbelnden Derwische und der Sufismus sind mittlerweile recht bekannt, aber es gibt durchaus noch andere vitale Formen der spirituellen Praxis innerhalb der muslimischen Welt. Viele davon sind entstanden, als sich der Islam und verschiedene Stammestraditionen verbanden und sich die Religion über Nordafrika ausbreitete. Eine dieser Traditionen, die im Maghreb bestanden hat, ist bekannt als "Gnawa"-Musik.
Obwohl sich Gnawa auch auf die nordafrikanische ethnische Minderheit beziehen kann, die ihren Ursprung südlich der Sahara hat, wird der Begriff auch gebraucht, um die Menschen zu beschreiben, die an der musikalischen und rituellen Tradition der Lila- oder Derdeba-Zeremonie teilnehmen.
Formen der oral history
Diese Zeremonie wird während einer ganzen Nacht abgehalten, in der die Teilnehmer dabei in einen trance-ähnlichen Zustand fallen und tanzen, wobei ihnen der Kontakt zu den Geistern ermöglicht wird. Jede Zeremonie beginnt mit der Anrufung Gottes, des Propheten und muslimischer Heiliger. Es handelt sich um eine Form der oral history ebenso wie um einen spirituellen Ritus. Außerdem fungieren die Tänze und Songs als Mittel zur Erinnerung an vorangegangene Gnawa und die Geschichten ihres Volkes.
Der in Marokko geborene und heute in London lebende Simo Lagnawi wuchs in der Gnawa-Tradition auf. Bevor er sich in England niederließ, bereiste er den ganzen Maghreb und lernte so bei unterschiedlichen Meistern. Er machte sich mit den verschiedensten Formen bekannt, die die Musik und die Tänze bei diesen Riten annehmen können. Dennoch beweist er mit seinem neuen Album "The Gnawa Berber" nicht nur, wie er dem Wesen der Musik treu bleibt, sondern auch, dass er nicht davor zurückschreckt, Elemente in die Musik zu intergieren, die andere als nicht-traditionell bezeichnen würden.
Nicht nur nutzt er die Musik, um Wesen wie den Waldgeist Sandiye heraufzubeschwören (so im Song "Sandika") und den Torwächter zur Geisterwelt, Abdelkader Gilani (im Song "Gilani"), Lagnawi pflegt auch die Tradition der mündlichen Geschichtsüberlieferung. Im Lied "Malo" erzählt er die Geschichte seiner eigenen Reise und bezieht dabei auch traditionelle Folksongs aus der Sahara und aus der Haussa- und Bambara-Tradition, die Geschichten ihrer Völker erzählen.
Und doch hat Lagnawi offenbar keine Probleme damit, auf dieser Basis aufzubauen. Während das Banjo (gespielt von Louis Bingham) auf "Sahara Wiya" afrikanische Wurzeln hat, bringen Griselda Sendersons Geige in "Dounia" und Freya Raes Flöte in "Sima" eindeutig europäische Elemente mit in die Musik ein.
Ausdrucksstarke Mixturen von Rhythmus und Melodie
Was wirklich als einzigartig an diesem wunderschönen Album anmutet, ist, wie es Lagnawi gelingt, all diese Stimmungen so nahtlos in seiner Musik zu verkörpern. Die ersten drei Stücke auf seiner neuen CD sind ausdrucksstarke Mixturen von Rhythmus und Melodie, mit Lagnawis leidenschaftlichem Gesang darüber. Man kann die Kraft dieser Musik spüren, wenn sie nach einem greift und es ihr gelingt, einen komplett in ihren Bann zu ziehen.
Das Stakkato der Percussion (ein Instrument, das Qarqaba genannt wird – Metal-Kastagnetten, die ein hypnotisches Klackgeräusch erzeugen) ist das Fundament, aber alle Instrumente erzeugen den trance-auslösenden Effekt, der für diese Musik typisch ist.
Und doch, auf dem vierten Stück des Albums, dem oben erwähnten "Dounia", beginnt man zu verstehen, wie Lagnawi seinen persönlichen musikalischen Horizont erweitert, ohne dabei sein musikalisches Erbe zu verleugnen. Der Song beginnt ähnlich wie die drei ersten Stücke der CD, doch schon bald gesellt sich eine keltisch klingende Fidel hinzu. Damit auch niemandem entgeht, was hier passiert, ruft Lagnawi, kurz bevor Senderson mit ihrer Geige einsetzt, laut: "Und extra aus Schottland gekommen …!"
Zuerst mag es ein wenig ungewohnt klingen, wenn sich eine Fiedel über Gnawa-Rhythmen legt, doch sobald man sich an die neue Dimension der Musik gewöhnt hat, ist nicht mehr zu überhören, wie geschmeidig diese sich in den gesamten Klangkosmos einfügt.
In der Tradition der Vorväter
Auch wenn sicherlich kein Mangel an Musikern herrscht, die moderne oder nicht-traditionelle Elemente in die Musik ihrer Vorväter integrieren, gibt es nicht viele, denen es gelingt, dabei die Integrität des Originals zu bewahren. Ohne die Musik wie ein Museumsstück zu behandeln, das keinen Platz in der modernen Welt findet, lässt Lagnawis Performance jederzeit deutlich erkennen, dass er fest in der Tradition verankert ist.
Bei einigen seiner Songs ist es die Kraft der Beats, die unsere Aufmerksamkeit fesselt und uns einen Eindruck von der Spiritualität der Musik vermittelt. Und doch sind die Stücke, die den größten Sog erzeugen, diejenigen, in denen seine Stimme im Vordergrund steht. Ihr wohnt eine gewisse Rohheit und Hingabe inne, die in der heutigen, sorgsam konstruierten Popmusik selten zu finden ist. Er öffnet sich dem, was er als außerhalb unserer physischen Welt existierend ansieht und lässt uns dabei die Macht seines Glaubens erfahren.
Musikalische Passion
Qualitativ hochwertige Musik vermag es immer, bei den Zuhörern Bilder und Momente wachzurufen – und "The Gnawa Berber" bildet hier wohl keine Ausnahme. Es mag ein wenig klischeehaft klingen, doch bei vielen der Lieder fällt es nicht schwer, sich das Land und seine Menschen vorstellen zu können, aus dem sie stammen.
Wir hören einen Sound, der am besten unter dem gewaltigen Nachthimmel in der Wüste gehört werden müsste – mit Sternen, die mit den in den Dünen verstreuten Lagerfeuern um die Wette leuchten. In Lagnawis Stimme und in den begleitenden Instrumenten vermeint man Generationen von Anbetern zu hören, die versuchen, sich ihrem Gott zu nähern.
Es heißt, dass das Göttliche schon seit Ewigkeiten bei den Menschen kreative Höhepunkte hervorgebracht hat. Ob in den Bildenden Künsten oder in der Musik – einige der einmaligsten und genialsten Werke sind bei dem Versuch entstanden, unseren Glauben entweder auszudrücken oder diesem Respekt zu zollen. Der Islam bildet hier keine Ausnahme. Und Lagnawis Musik ist ein Beispiel für eine Form, die dieser Versuch annehmen kann. Wie die Dichtung des Mystikers Rumi oder der Tanz der Derwische, ist auch die Gnawa-Musik ein vollendeter Ausdruck der Hingabe.
Richard Marcus
© Qantara.de 2014
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol