Der Weg zu Assads Rehabilitation führt über Genf
In Syrien den Durchblick zu behalten, fällt dieser Tage schwer. Denn alle Beteiligten handeln zur Durchsetzung kurzfristiger Interessen extrem pragmatisch und arrangieren sich lieber mit ihren Gegnern als auf langfristige Bündnisse zu setzen.
So kommt es, dass der NATO-Partner Türkei mit dem NATO-Gegner Russland zusammen das nordsyrische Grenzgebiet kontrolliert und sich beide gleichermaßen darüber ärgern, dass amerikanische Einheiten nun doch bleiben, um das Öl für die Kurden zu bewachen. Deren Volksverteidigungseinheiten (YPG) haben sich von der Grenze zurückgezogen und überlassen das Feld entweder den Extremisten der Syrischen Nationalarmee, die als syrische Söldner im Dienste Ankaras ihre Landsleute vertreiben und massakrieren, oder den Truppen des Regimes, die überall dort vorrücken, wo sie auf wenig Gegenwehr stoßen.
Weiter westlich gibt das russische Militär in der Provinz Idlib den Luftraum für US-Kampfhubschrauber frei, die dadurch IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi eliminieren können. Dessen Präsenz nahe der syrisch-türkischen Grenze scheint den dort stationierten türkischen Beobachterposten entgangen zu sein.
Die Türkei gilt als Schutzmacht der letzten von Assad-Gegnern gehaltenen Provinz, sie sollte in Idlib ursprünglich radikale Aufständische mäßigen und eine Militäroffensive des Regimes und Russlands abwenden. Doch statt drei Millionen Zivilisten vor russischen Luftangriffen und vorrückenden Assad-Truppen zu schützen, unterzieht Präsident Erdoğan die von ihm finanzierten Islamisten lieber einer antikurdischen Gehirnwäsche, um sie östlich des Euphrats als besagte Syrische Nationalarmee gegen die YPG vorzuschicken.
So weit die Dynamik der letzten Wochen, die verschiedene staatliche und nichtstaatliche bewaffnete Akteure in Stellung gebracht hat: türkische, russische, amerikanische und syrische Soldaten plus kurdische Kämpfer und islamistische Milizen.
Prozess der Annäherung statt Konfrontation
Droht die Lage in Syriens Nordosten also militärisch zu eskalieren, während Europa halbherzig über international kontrollierte Schutzzonen diskutiert? Nein. Denn was nach Konfrontation aussieht, leitet in Wirklichkeit einen Prozess der Annäherung ein. Wenn Idlib mit Waffengewalt zurückerobert ist und der Nordosten mit einseitigen Abkommen wieder dem Regime untersteht, wird sich die Welt mit Assads Sieg abfinden – auch die Türkei und die USA. Dann werden sich Leute wie Erdoğan und Assad, Putin und Trump gegenseitig auf die Schultern klopfen und etwas von "great deal" twittern.
Dahinter steckt eine russische Strategie, die aus der Not geboren ist. Präsident Wladimir Putin hat viel investiert, um seinen Schützling Baschar al-Assad an der Macht zu halten, er kann das Regime in Damaskus aber aus eigener Kraft nicht dauerhaft stabilisieren. Zu teuer ist der Wiederaufbau, zu mächtig sind lokale Kriegsherren, zu groß die Erwartungen regimenaher Geschäftsleute.
Klientelismus und Kriegswirtschaft machen den Alltag in den Regime-Gebieten auf Dauer schwer erträglich. Auf den Ruinen zerstörter Stadtteile entstehen Luxuswohnungen für eine Assad-loyale Elite statt Sozialwohnungen für Binnenvertriebene, an Checkpoints sind Syrer ohne Vitamin B der Willkür der jeweiligen Milizionäre ausgeliefert.
Zwar wird die Not der Menschen durch die – überwiegend westlich finanzierte – humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen gelindert, aber die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird zunehmen, vor allem beim Thema Wohnraum. Dieser Unmut bleibt nur so lange kontrollierbar wie die Angst vor Verhaftung größer ist als der Wunsch nach Veränderung. Die Allmacht der Geheimdienste ist deshalb Assads wichtigstes Herrschaftsinstrument.
Syrien – die schwere Hypothek Russlands
In diesem Zustand ist Syrien für Russland eine schwere Hypothek. Denn auch wenn Putin im Syrien-Konflikt Moskaus Rolle als Weltmacht gefestigt und diplomatische, politische und militärische Handlungsfähigkeit bewiesen hat – wirtschaftlich ist Syriens Stabilisierung eine Nummer zu groß für ihn. Er braucht dafür Verbündete – die Golfstaaten, China, vor allem aber Europa und die USA.
Sehr geschickt arbeitet Putin deshalb an der internationalen Rehabilitierung Assads. Neben gezielter Propaganda ("der Westen hat militärisch verloren und will Syrien jetzt mit Sanktionen wirtschaftlich zerstören") und einer PR-Offensive, die westliche Journalisten "embedded" mit russischem und syrischem Militär ins Land holt, bietet Moskau jedem Akteur an, was dieser braucht.
Der Türkei etwa geht es um ein Ende kurdischer Autonomie. Also erinnert Putin Ankara und Damaskus daran, dass sie einen gemeinsamen Feind haben, den zu bekämpfen sie sich schon einmal – nämlich 1998 in der Erklärung von Adana – vorgenommen hatten. Damals verpflichtete sich das syrische Regime zum Kampf gegen die PKK, deren Gründer Abdullah Öcalan sich zuvor 18 Jahre lang in Syrien versteckt gehalten hatte. Dieses Bekenntnis zum Anti-Terror-Kampf gilt aus Sicht Ankaras auch für die Partei der Demokratischen Union (PYD), die sie für den syrischen Ableger der PKK und folglich genauso terroristisch hält.
Der türkische Außenminister kündigte bereits an, eine Rückgabe türkisch kontrollierter Gebiete an das Regime in Damaskus sei denkbar, wenn dieses effektiv gegen jede Form von Terrorismus vorgehe. Sollte Assad also das Autonomieprojekt der PYD beenden und die YPG in die staatlichen Truppen integrieren, wäre Erdoğan zur Zusammenarbeit bereit. Eine dramatische Wende in einem Konflikt, in dem die Türkei über sieben Jahre der wichtigste Unterstützer der politischen Opposition und die Lebensader für den bewaffneten Aufstand gegen Assad war.
Weitere drohende Deportationen syrischer Flüchtlinge
Die Ansiedlung syrischer Geflüchteter müsste die Türkei in diesem Fall allerdings aufgeben, denn die meisten der in der Türkei lebenden Syrer sind vor dem Regime geflohen und können aus Angst vor Verfolgung, Verhaftung und Zwangsrekrutierung nicht in Assads Gebiete zurückkehren. Im schlimmsten Fall drohen weitere Deportationen von Syrern, wie sie nach Recherchen von Amnesty International bereits stattgefunden haben. Dann wäre die Türkei für Syrer nicht mehr sicher und das EU-Türkei-Abkommen hinfällig.
Und was bietet Putin dem Westen an, damit dieser seine Beziehungen zu Damaskus normalisiert, die Sanktionen aufhebt und den Wiederaufbau finanziert? Das, was Europäer und Amerikaner selbst seit Jahren fordern, aber nicht zustande gebracht haben: eine politische Lösung des Konflikts.
Der erste Schritt dorthin soll das Verfassungskomitee sein, das seit Ende Oktober unter UN-Vermittlung in Genf tagt. 150 Syrer diskutieren dort über eine neue Verfassung, am Ende sollen freie Wahlen unter UN-Aufsicht stattfinden. Eine Illusion angesichts der Tatsache, dass das syrische Regime seit Jahren keine Bereitschaft zeigt, Macht abzugeben.
Selbst als es für Assad zwischendurch eng wurde, setzte er auf militärischen Sieg – zu dem ihm Russland und der Iran schließlich verhalfen. Er weiß, dass jedes echte Zugeständnis zum Zusammenbruch seiner Herrschaft führen würde, weil diese auf Angst, Loyalität und Klientelismus gebaut ist. Der Verfassungsprozess täuscht deshalb die politische Lösung eines Konfliktes vor, der militärisch längst entschieden ist. Er ist Putins Angebot an Europa, sich gesichtswahrend mit dem Regime zu arrangieren. Daneben lockt Putin mit der Rückkehr von Geflüchteten, die Assad in Wirklichkeit gar nicht haben will und deshalb schon jetzt einschüchtern und enteignen lässt.
Zurück in eine zerrüttete Gesellschaft?
Dennoch hält auch Außenminister Heiko Maas an der Idee fest, Syrer sobald wie möglich nach Hause zu schicken. Natürlich nur "freiwillig" und "wenn sie dort sicher sind", betont er. Syrien wird aber erst dann sicher sein, wenn der Geheimdienstapparat entmachtet ist und die Verantwortlichen für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Für demokratische Wahlen braucht es Presse- und Meinungsfreiheit, die Möglichkeit, sich gefahrlos politisch und zivilgesellschaftlich zu engagieren sowie staatliche Institutionen, die dem Bürger und nicht dem Machterhalt des Regimes dienen.
Nach 50 Jahren Angst und Gleichschaltung und acht Jahren entfesselter Gewalt sind die Menschen voller Hass, die Gesellschaft ist zerrüttet. Wichtiger als eine Verfassung, die an den Mechanismen der Macht und damit im Alltag der Menschen nichts ändern wird, wären deshalb Anstrengungen zu Versöhnung und politischer Bewusstseinsbildung, die bislang nur außerhalb Syriens stattfinden können – vor allem in Europa.
Statt auf ein Verfassungskomitee zu setzen, dem es sowohl bei Anhängern als auch Gegnern des Regimes an Glaubwürdigkeit mangelt, sollte sich Deutschland lieber für die Integration der Syrer, die Stärkung einer syrischen Diaspora und die juristische Aufarbeitung der in Syrien begangenen Verbrechen einsetzen.
Kristin Helberg
© ZEIT ONLINE 2019
Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Kristin Helberg lebte von 2001 bis 2008 in Damaskus, wo sie lange Zeit die einzige offiziell akkreditierte westliche Korrespondentin war. Für europäische Medien berichtete sie von Syrien aus über die arabische und islamische Welt. Heute arbeitet sie als Autorin und Nahost-Expertin in Berlin.