Von harām zu halāl

Islamische Revolution im Iran, 1979 (Foto: picture-alliance/IMAGNO/Votava)
Islamische Revolution im Iran, 1979 (Foto: picture-alliance/IMAGNO/Votava)

Auf den ersten Blick zeigt der Iran des Jahres 2021 noch immer große Ähnlichkeit mit der islamischen Theokratie, die nach dem Sturz des Schah im Jahr 1979 errichtet wurde. Doch obwohl die Scharia bis heute in Kraft ist, hat sich im Iran im Laufe der Jahre die Definition dessen verschoben, was erlaubt und was verboten ist. Von Mehdi Abadi

Von Mehdi Abadi

Als das Regime 1980 seine Herrschaft zementierte, führten die neuen iranischen Machthaber die Scharia landesweit ein, was zu einschneidenden Veränderungen im Alltagsleben führte. Ab sofort bestimmte das islamische Gesetz, was die Iraner essen, welche Kleidung sie tragen, welche Musik sie hören und welche Sportarten sie ausüben oder anschauen durften.

Dennoch hat sich vieles in den letzten vier Jahrzehnten geändert. Einiges, was einst nach islamischem Recht als verboten galt (harām), ist nun erlaubt (halāl). Vier Beispiele für den Wandel in der Anwendung der iranischen Scharia aus den letzten 42 Jahren:

Kaviar

Kaviar, der im Iran wie anderswo als Delikatesse gilt, wurde 1979 verboten. Die Ajatollahs betrachteten den gesalzenen Rogen des Störs als harām. Für die vom Überfischen bedrohten Störbestände war dies eine gute Nachricht; für die angeschlagene iranische Wirtschaft weniger.

Das Verbot ging allerdings nicht unmittelbar auf die Islamische Revolution zurück. Vielmehr stand Störrogen schon lange auf der schwarzen Liste der Ajatollahs. Bereits Ruhollah Khomeini, Irans erster Revolutionsführer, erließ dazu schon vor 1979 eine entsprechende Fatwa. Diese Fatwa fand vorher jedoch kaum Beachtung und hatte in den letzten Jahren unter dem Schah kein großes Gewicht.

Ein Geschäft für iranischen Kaviar, London grocer's, 17.04.2016 (Foto: Waldopepper, Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0))
Einst verboten, heute ein millionenschwerer Exportmarkt: Im schiitischen Islam ist der Verzehr von Teilen eines schuppenlosen Fisches – in diesem Fall des Störs – harām. Vier Jahre nach der Revolution lieferte die Wissenschaft dem iranischen Regime allerdings eine hilfreiche Argumentation, um das Verbot zu umgehen. Zwar hätten die meisten Arten ihre Schuppen im Laufe der Evolution verloren, so die Wissenschaftler gegenüber dem Obersten Führer, es gebe aber auch Arten mit Schuppen. Heute kontrolliert der iranische Staat die höchst lukrative Kaviarindustrie und will die Produktion in diesem Jahr weiter steigern.

Kaviar ist heute im Iran nicht mehr verboten. Doch warum? Die wachsende wirtschaftliche Not im Iran hatte auch Auswirkungen auf die Fatwa. Was einst harām war, wurde halāl. Warum war Kaviar überhaupt verboten? Die Antwort lautet: Wegen der Fischschuppen oder genauer gesagt wegen der fehlenden Fischschuppen beim Stör. Im schiitischen Islam ist der Verzehr von Teilen eines schuppenlosen Fisches – in diesem Fall des Störs – harām.

Vier Jahre nach der Revolution lieferte die Wissenschaft dem iranischen Regime eine hilfreiche Ausstiegsklausel. Die meisten Arten des Stör hätten im Laufe der Evolution ihre Schuppen verloren, so die Wissenschaftker gegenüber dem Obersten Führer, es gebe aber durchaus einige Arten von Stör mit Schuppen.

Heute kontrolliert der iranische Staat die millionenschwere Kaviarindustrie. Irans stellvertretender Landwirtschaftsminister, Hossein Salehi, hofft darauf, die Produktion in diesem Jahr weiter steigern zu können.

Dieses Hin und Her um den Kaviar dürfte den meisten Iranern gleichgültig sein, denn als Luxusware bleibt er für sie ohnehin unerschwinglich. So kosten 100 Gramm Beluga-Kaviar mehr als 11.000.000 iranische Rial (etwa 210 Euro).

Schach

Auch das uralte Schachspiel wurde im Iran nach der Revolution verboten. Warum? Im Islam ist Glücksspiel harām. Da man Schach als eine mögliche Form des Glücksspiels einordnete, wurde es im Iran verboten.

Und wie wurde es wieder halāl? 1988 befragte man Großajatollah Khomeini nach den islamischen Gesetzen zum "Schachspielen ohne Ziel des Glücksspiels als reinem Sport“. Er antwortete darauf: "Wenn das Spiel gespielt wird, ohne gewinnen oder verlieren zu wollen, gibt es kein Problem“.

Alte Männer spielen Schach in einem Park in Isfahan, 3.12.2007 (Foto: Ivan Mlinaric/Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)
Ein Spiel, das man ohne Gedanken an Sieg oder Niederlage spielt? Der sechzehnjährige Schachgroßmeister Alireza Firouzja, der den Weltmeister Magnus Carlsen im Finale des Banter Blitz Cup 2020 schlug, spielt unter der Flagge des Weltschachverbands FIDE, nachdem er sein Heimatland Iran verlassen hatte, um den dortigen Restriktionen zu entgehen. So verbietet der Iran seinen Bürgern, gegen Israelis anzutreten – als Zeichen des Protests gegen das Land und aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk.

Und was veranlasste Khomeini zu dem Kompromiss, Schach ohne einen Gedanken an Sieg oder Niederlage spielen zu können? Offenbar wollte er die Angelegenheit nicht auf die Spitze treiben. Seitdem spielen die schachbegeisterten Iraner wieder in Clubs und Parks und nehmen sogar an internationalen Meisterschaften teil.

Irans Kleriker sind allerdings nicht die einzigen religiösen Führer, die sich gegen das Schachspiel aussprechen. So kursierte im Jahr 2016 ein Video des Großmufti von Saudi-Arabien, in dem dieser Schach für harām erklärte.

Musik

Dass im konservativen Islam Musik als harām gilt, ist kein Geheimnis. Nach der Revolution wurde dieses Gebot im Iran strikt umgesetzt. Khomeini war entschlossen, Musik jeglicher Art im ganzen Land zu verbieten. Aber wie sollte man es mit der Nationalhymne oder mit Fernseh- und Radiosendungen halten?

Wäre es nach Khomeini gegangen, hätte er wahrscheinlich entschieden, dass der Iran keine Nationalhymne braucht. Und was Musik in Radio und Fernsehen angeht, so hatte Khomeini 1980 in einem Brief an die nationale Rundfunkgesellschaft des Iran unmissverständlich angeordnet:"Schafft die Musik ab! Habt keine Bedenken, als alte Garde bezeichnet zu werden, nur weil ihr die Musik abschafft.“ In seinem Schreiben hieß es weiter: "Ich habe Herrn Ghotbzadeh [den damaligen Leiter der nationalen Rundfunkanstalt Irans] bereits gebeten, sie [die Musik] aus dem Programm zu entfernen. Er sagt, dies sei nicht möglich. Ich verstehe nicht, was er mit 'es ist nicht möglich' meint. Warum ist das nicht möglich?“



Einige Jahre später erkannte wohl auch Khomeini, warum. Er entschied sich, seine Fatwa zunächst für "revolutionäre Musik“ und schließlich auch für iranische Volksmusik zu lockern. 1988 veröffentlichte er schließlich eine Fatwa, die das Musikverbot im Iran generell lockerte. 

In den ersten Jahren der Revolution war es sogar verboten, traditionelle iranische Musikinstrumente zu kaufen und zu verkaufen. Heutzutage trifft man in U-Bahn-Stationen oder auf den belebten Straßen von Teheran und anderen iranischen Großstädten häufig Straßenmusiker mit E-Gitarre.

Das Musikverbot ist allerdings nicht vollständig weggefallen. In religiösen Zentren wie Ghom und Maschhad wird man selten Live-Musik hören, denn dort gilt das Verbot stillschweigend weiter. Und eine Einschränkung besteht nach wie vor: Sängerinnen dürfen nur vor einem ausschließlich weiblichen Publikum auftreten.

Kampfsport

"Was für ein Sport ist das?“ fragte Ajatollah Hossein Ali Montazeri aufgebracht, als er zum ersten Mal einen Boxkampf sah. "Das ist Barbarei. Macht Schluss damit“, so der designierte Nachfolger des Revolutionsführers Khomeini.

Montazeri hat zwar keine Fatwa gegen das Boxen erlassen, aber seine Bemerkung führte dennoch dazu, dass dieser Sport zehn Jahre lang verboten wurde. Das Verbot galt nicht nur für den Boxsport; auch andere Kampfsportarten, wie Kickboxen und Thaiboxen, fielen darunter.

Erst nach zehn Jahren konnten die iranischen Boxer die Behörden davon überzeugen, dass ihr Sport nicht gegen das islamische Gesetz verstößt. Letztlich gelang es Ahmad Nateq Nuri, dem Bruder eines einflussreichen Geistlichen und Politikers, die Ajatollahs zu überzeugen.

Nuri war vor 1979 selbst Freistilringer und Boxer. Nach der Revolution wurde er ins Parlament gewählt. In einem Interview aus dem Jahr 2016 erzählte Nuri, wie er ein Paar Boxhandschuhe ins Büro des ultrakonservativen Ajatollah Ahmad Dschannati mitnahm und diesen davon überzeugte, die Handschuhe seien dazu da, Boxer vor Verletzungen zu schützen.

Neben Kampfsportarten wurde im ersten Jahrzehnt nach der Islamischen Revolution unter anderem auch das Bodybuilding verboten. Im Männersport war es zudem schwierig, Ringen, Schwimmen, Gewichtheben und sogar Fußballspielen im Fernsehen zu übertragen, da Sportkleidung gegen die religiösen Bekleidungsvorschriften verstieß.

Doch auch vier Jahrzehnte nach der Revolution von 1979 bleiben bestimmte Sportarten im Iran weiterhin verboten. So beispielsweise professionelles Wrestling, weil dies mit der amerikanischen Kultur in Verbindung gebracht wird, oder der Kampfsport Krav Maga wegen seiner jüdischen Wurzeln. Der Frauensport unterliegt immer noch sehr starken Einschränkungen, da die Mullahs die sportliche Betätigung von Frauen als unanständig und unislamisch ansehen.

Trotz aller Veränderungen bestimmt im Iran weiterhin die Scharia, was verboten und was erlaubt ist. 42 Jahre nach der Revolution gibt es zwar praktisch kein Verbot mehr, Schach zu spielen, Kaviar zu essen oder öffentlich zu singen. Doch die religiösen Machthaber des Landes bringen weiterhin jede Stimme der Opposition im Namen der Scharia zum Schweigen.

Mehdi Abadi

© Qantara.de 2021

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers