"Die Lage ist einigermaßen sicher"
Im Frühjahr 2012 starteten eine Tuareggruppierung namens MNLA (die "Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad") und verschiedene terroristische Organisationen eine Offensive gegen die malische Armee im Nordosten des Landes und drangen Richtung Süden vor. Wegen seiner vermeintlichen Unfähigkeit, diesen Angriff zu stoppen, wurde Präsident Amadou Touré von seinem eigenen Militär unter Leitung von Hauptmann Amadou Sanogo gestürzt. Weniger als ein Jahr später sandten die Vereinten Nationen französische und afrikanische Truppen, um den Vormarsch der Rebellen aufzuhalten. Vergangenen Sonntag, am 11. August 2013, wurde schließlich die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Mali abgehalten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der ehemalige Ministerpräsident Ibrahim Boubacar Keita das nächste malische Staatsoberhaupt sein.
Die Präsidentschaftswahlen in Mali sind nun ohne größere Zwischenfälle vonstatten gegangen, doch die Zukunft des Landes bleibt ungewiss. Wie schätzen Sie Malis derzeitige Lage ein?
Marie Rodet: Viele Menschen setzen ihre Hoffnungen auf den nächsten Präsidenten, was ihn natürlich unter großen Druck setzt. Es bleibt abzuwarten, ob er in der Lage sein wird, diesen Ansprüchen und Erwartungen gerecht zu werden. Vor allem eingedenk des Problems im Norden, das weit davon entfernt ist, gelöst zu werden. Die Beziehungen zu den Tuareg-Unabhängigkeitskämpfern, die bereits angekündigt haben, dass sie Autonomie einfordern werden, sind angespannt.
Sie haben diese Übergangssituation zwischen den beiden Wahlrunden dazu genutzt, auf die Präsidentschaftskandidaten Druck auszuüben, sodass sie auf ihre Autonomiebestrebungen eingehen. Außerdem gibt es eine enorme Wirtschafts- und Gesellschaftskrise. Abertausende malische Flüchtlinge leben unter sehr schwierigen Bedingungen in verschiedenen Nachbarländern. Eines der größten Probleme, welchem die nächste Regierung gegenübersteht, wird die Rückführung dieser Menschen und der Aufbau eines gesicherten Lebens für sie sein.
Ibrahim Boubacar Keita, auch als "IBK" bekannt, hat offenbar die Wahlen gewonnen. Wie wird er voraussichtlich mit der Situation im Norden Malis umgehen?
Rodet: Keita ist für seinen harten Verhandlungsstil mit den Tuareg bekannt. Es ist zu vermuten, dass er im Gegensatz zu Soumaila Cissé nicht sanft mit den aufständischen Tuareg verfahren wird. Gleichzeitig ist sein Spielraum aber sehr begrenzt, denn Keita wird von internationalen Geldgebern – den USA, Frankreich, aber auch der Afrikanischen Union – unter Druck gesetzt.
Es wurde der Vorwurf erhoben, dass Frankreichs Militärintervention im Januar nicht nur der Zurückdrängung der Islamisten und der Tuareg galt, sondern auch der Sicherung von Uranvorkommen in Niger. Was waren Ihrer Meinung nach die Gründe für den Militäreinsatz?
Rodet: Das ist nicht ganz sicher. Frankreich war bereit, sich zu gegebener Zeit einzumischen. Im Januar dieses Jahres eskalierte die Lage sehr schnell, was eine sofortige Intervention zur Folge hatte. Die Islamisten erreichten Dörfer, die sehr nahe an strategisch wichtigen Punkten in Mali lagen. Das Problem war, dass niemand bereit oder willens war, einzugreifen. Soweit ich gehört habe, waren es tatsächlich die verschiedenen Politiker Westafrikas, die Präsident Hollande anriefen und sagten: "Sie müssen jetzt etwas tun, denn es wird schlimmer und schlimmer."
Es gab anscheinend eine Art modus vivendi zwischen den Führern des Putsches in Bamako – Hauptmann Sanogo und seinen Truppen – und den Islamisten im Norden. Sanogo ließ sie vordringen, solange sie nicht Bamako erreichten. Als Frankreich intervenierte, stand Sanogo offenbar vor einem neuen Coup gegen den Interimspräsidenten Dioncounda Traoré, sodass dieser am Ende ebenfalls Hollande um Hilfe bat. Die Franzosen stoppten lediglich den Vormarsch der Islamisten nach Süden, bevor es zu spät war.
Es sind immer noch mehrere tausend französische Soldaten im Land. Wie wird Frankreich im Weiteren vorgehen?
Rodet: Die Franzosen sagen, dass sie sich langsam aus Mali zurückziehen werden. Ich glaube jedoch, dass sie sich im Rahmen der MINUSMA-Truppe ("Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali", Anm. d. Red.) im Hintergrund halten werden, auch wenn sie offiziell keine Führungsrolle übernehmen. Sie werden vor Ort bleiben, weil sie am besten ausgerüstet sind und bereits eine Intervention durchgeführt haben. Sie werden ein Auge auf den Norden behalten, denn man sorgt sich um französische Geiseln, aber auch um die derzeit unberechenbare Situation, die jederzeit eskalieren könnte. Die Islamisten wurden besiegt, aber sie wurden nicht alle getötet oder sind verschwunden. Sie verstecken sich irgendwo, entweder in Nordniger, Südtunesien oder – viel wahrscheinlicher – im Süden Libyens, welcher im Moment völlig unkontrolliert ist.
Wie, glauben Sie, hat der Konflikt in Mali die von Ihnen angesprochenen Länder beeinflusst und wie werden sie in Zukunft darauf reagieren?
Rodet: Nun, das ist schwer zu sagen, denn diese Islamistengruppen verschwinden, tauchen wieder auf und passen sich sehr schnell an. Sie sind äußerst flexibel. Man kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass die herrschenden Umstände benachbarte Länder zu verstärkter Militarisierung treiben, zum Beispiel Niger, das um internationale Hilfe zur Verstärkung seiner Armee bat. Im Grunde passiert das gerade auch in Mali, wo die Europäische Union und die Amerikaner die malische Armee ausbilden. Das ist sehr wichtig, weil diese Armeen sehr schwach waren und sowohl Training als auch Ausrüstung benötigen.
Die große Frage ist allerdings, was in Libyen passieren wird. Das Land war bereits der Hauptgrund für Malis Destabilisierung, aber insbesondere der Süden ist immer noch nicht unter Kontrolle. Dort gibt es keine wirkliche Staatsgewalt; stattdessen floriert illegaler Handel und bewaffnete Gruppen beherrschen die Region. Unglücklicherweise ist Libyen eine neue Zeitbombe. Zugleich wissen wir nicht, was in Tunesien im Hinblick auf den politischen Wandel passieren wird.
Die ganze Region ist potentiell explosiv. Es gibt viele Gründe zur Sorge, aber ich glaube, dass die Lage in Mali einigermaßen gesichert ist. Der Konflikt ist nicht ganz gelöst, doch verglichen mit anderen Ländern, wie Libyen, steht in Mali nicht viel auf dem Spiel. Das soll nicht heißen, dass nicht von Bedeutung ist, was in Mali vor sich geht, aber ich bin der Meinung, dass man sich über andere Länder viel mehr Gedanken machen müsste.
Das ist eine interessante Einschätzung. Aber die Tuareg und die Islamisten werden doch sicherlich weiterhin versuchen, die Autorität des malischen Staates anzufechten und einen eigenen Staat zu errichten, oder nicht?
Rodet: Ich denke, es hängt davon ab, wie starke internationale Kräfte wie die Vereinigten Staaten oder Frankreich die malische Regierung dazu drängen, bestimmte Pläne zu akzeptieren oder abzulehnen. Natürlich sind alle Regionen in Mali sozial benachteiligt, viele Malier fühlen sich entrechtet und so weiter. Aber wenn die Tuareg Autonomie erlangen, werden alle Regionen in Mali in der Position sein, auf gleiche Weise Autonomie zu verlangen.
Der Präsident wird den Dezentralisierungsprozess wahrscheinlich weiter vorantreiben, der in den letzten zwanzig Jahren bereits stark ausgebaut worden ist. Wie also die Autonomie des Nordens innerhalb des weiteren Dezentralisierungsprozesses formuliert werden kann, wird Aufgabe der nächsten Regierung sein.
Sind die Forderungen der Tuaregführer eigentlich repräsentativ für die Mehrheit der Tuareg?
Rodet: Die Tuareg – selbst wenn sie zu einem gewissen Teil legitime Ansprüche erheben – repräsentieren nur einen winzig kleinen Teil der gesamten Bevölkerung Malis, und sogar die MNLA, welche zurzeit die führende Rebellengruppe der Tuareg ist, vertritt nicht die Mehrheitsinteressen dieser Volksgruppe.
Es geht also um gute Kommunikationsfähigkeiten und wie sie in der Lage waren, gute Beziehungen mit manchen französischen Offiziellen herzustellen und sich als rechtmäßige Akteure darzustellen. Die Frage ist, wie lange sie diese Position behaupten können. Angesichts des ganzen Konflikts glaube ich, dass die Menschen im Moment einfach nur Frieden wollen. Und ich bin nicht sicher, ob die MNLA fähig wäre, einen geraden Kurs Richtung Autonomie zu fahren, wenn die Bevölkerung nur Frieden haben möchte.
Interview: Jonas Berninger
© Qantara.de 2013
Übersetzt aus dem Englischen von Jonas Berninger
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
Marie Rodet ist Dozentin für Geschichte an der School of Oriental and African Studies, University of London. Sie spezialisiert sich auf Sklaverei und Genderstudien im französischsprachigen Westafrika, insbesondere in Mali.