Wendepunkt, Versagen, moralische Abdankung

Gaza ist zu einer Chiffre geworden, zur Markierung eines politischen und moralischen Bruchpunkts. Gleich vier international bekannte Intellektuelle (sämtlich Männer) umkreisen in ihren neuen Büchern, was Gaza zu diesem globalen Zeichen gemacht hat: zunächst und vor allem der Umstand, dass das Massensterben und sogar ein mutmaßlicher Genozid von westlichen Regierungen toleriert, geduldet und unterstützt wurde.
Aber was folgt daraus ethisch und politisch? Wie verändert die Zerstörung Gazas das Geschichtsbewusstsein, die Erinnerungskultur, das jüdische Selbstverständnis?
Keiner der Autoren macht es sich leicht, und natürlich leugnet keiner von ihnen die Hamas-Verbrechen vom 7. Oktober 2023. Trotz mancher Übereinstimmungen sind die Ansätze, Erzählweisen und Beweggründe des indischen Essayisten Pankaj Mishra, des US-jüdischen Kolumnisten Peter Beinart, des französischen Anthropologen Didier Fassin und des jüdisch-italienischen Historikers Enzo Traverso so unterschiedlich wie die jeweiligen Prägungen der Verfasser.
Pankaj Mishra widmet Deutschland ein eigenes Kapitel
Beginnen wir mit Pankaj Mishras „The World after Gaza“ (Titel der deutschen Übersetzung: “Die Welt nach Gaza”), das den opulentesten Lesestoff liefert. Mishra wurde zum Bestseller-Autor mit seinen Welterzählungen aus einer nicht-westlichen, vor allem asiatischen Sicht, die immer auch die Geistesgeschichte bedeutender Intellektueller jenseits der westlichen Hemisphäre umfasst.

Wer Mishras „From the Ruins of Empire“ (2012) gelesen hat, wird in seinem jüngsten Werk den bengalischen Dichter Rabindranath Tagore wiedertreffen, nun allerdings zusammengeblendet mit dem österreichischen Kulturzionisten Martin Buber, der für eine friedliche Koexistenz mit der arabischen Bevölkerung Palästinas eintrat. Tatsächlich haben sich die beiden Männer getroffen.
Solche Zusammenschauen jenseits des Üblichen machen Mishras Buch auch für eine Nahost-kundige Leserschaft spannend, etwa auch beim Vergleich der Rollen von Theodor Herzl und Muhammad Ali Jinnah, dem geistigen Vater Pakistans.
Der 56-jährige Mishra ist eminent belesen und er unternimmt, was jüngere Autoren*innen im dekolonialen Lager oft vernachlässigen: Er schreitet das gesamte historische Tal der jüdischen Erfahrung ab und verknüpft sie mit der Geschichte anderer Unterdrückter und auf Befreiung Hoffender.
Das hat eine autobiographische Grundmelodie: Mishra wuchs mit der Bewunderung für den Zionismus in seiner indischen, hindu-nationalistischen Brahmanen-Familie auf, hatte als Junge ein Moshe-Dayan-Plakat über dem Bett hängen und rät noch heute dazu, die Rolle der siedlerkolonialen Ideologie bei der Analyse von Israels Staatswerdung nicht überzubetonen.

Indiens Waffenverkäufe an Israel sind ein politisches Statement
Waffenlieferungen an Israel könnten Indien mehr Unterstützung in den westlichen Hauptstädten bringen. Doch das Kräfteverhältnis im Nahen Osten wird sich in Zukunft zu Ungunsten der westlichen Staaten und ihrer Verbündeten am Golf entwickeln, meint der indische Nahost-Experte Omair Anas.
Doch habe das heutige Israel aus der Shoah, die Mishra bisher als universellen moralischen Referenzpunkt betrachtete, eine „dunkle Bedeutung“ abgeleitet und sie in einer „Maschinerie der Unterdrückung der Palästinenser“ institutionalisiert.
Mishra hat die letzten Zeilen des Buchs nach dem Wahlsieg Donald Trumps verfasst. Das trägt zur Düsternis seines Resümees bei, im Widerspruch zu anderen, helleren Passagen. Die Welt nach Gaza sei eine „bankrotte und erschöpfte Welt“, Israels Politik ihr Vorbote und die Vertreibung der Palästinenser*innen aus Gaza und der Westbank kaum aufzuhalten. Doch habe die weltweite Solidarität „die große Einsamkeit der Palästinenser“ gelindert, dies berge immerhin Hoffnung.
Nachgetragen sei, dass Mishra der deutschen Israel-Politik ein eigenes Kapitel widmet – eine vernichtende Kritik (vom Guardian vorab unter dem Titel „Israel and the delusions of Germany’s memory culture“ veröffentlicht). Der deutsche Nachkriegsanspruch auf Normalisierung – ob durch Philosemitismus, das Konzept der Staatsraison oder durch „stolze und ostentative Selbstvorwürfe“ – sei in einer Sackgasse angelangt, nämlich bei der erneuten Komplizenschaft mit einem mörderischen Ethnonationalismus.
Enzo Traverso warnt vor Gedenken als Waffe westlicher Dominanz
Der jüdisch-italienische Historiker Enzo Traverso arbeitet diesen Aspekt noch schärfer heraus: „Die Erinnerung an einen Genozid zu mobilisieren, um einen anderen Genozid in der Gegenwart zu billigen, ist etwas Neues und historisch noch nie Dagewesenes.“

Seinem Essay „Gaza devant l‘histoire” (Titel der deutschen Übersetzung: „Gaza im Auge der Geschichte”) legt er deshalb die sogenannte „deutsche Frage“ zugrunde, auch weil er als Italiener Deutschland für seine Erinnerungsarbeit stets bewundert habe.
Der 67-jährige Traverso, der seit langem in Frankreich lebt und dort ebenso lehrt wie in den USA, ist über Jahrzehnte mit luziden Werken zur Shoah und zur jüdischen Ideengeschichte hervorgetreten. In „La fin de la modernité juive” („Das Ende der jüdischen Moderne“, auf Deutsch 2017) bündelte sich bereits seine Sorge, wie ein einst gesellschaftlich fortschrittlicher jüdischer Humanismus konservativ-zionistisch konfisziert wird.
Sein jüngster Essay fand nur mit Mühe einen deutschen Verlag (erschienen bei Wirklichkeit Books im November 2024); zu unbequem sind Traversos wohlüberlegte, aber eben provokative Analogien.
Die Überzeugung des deutschen Mainstreams, Israel könne schon deshalb keinen Genozid begehen, weil es jüdisch sei, vergleicht Traverso, der sich früher dem Trotzkismus zurechnete, mit der Haltung jener Kommunisten, die in NS-Konzentrationslagern inhaftiert waren und später die Existenz sowjetischer Gulags leugneten: weil Sozialismus doch für Freiheit stehe.
Weitaus differenzierter als etwa Judith Butler nimmt Traverso zur Berechtigung eines militanten palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung Stellung: Auch in einem an sich völkerrechtlich legitimen Kampf gebe es illegitime, verwerfliche, zu bestrafende Methoden. Der 7. Oktober sei ein Terrorakt gewesen, nicht jedoch ein Pogrom.

„Der Westen starb in Gaza“
Der Comic-Pionier und Journalist Joe Sacco spricht über die westliche Berichterstattung zum Krieg in Gaza, über mündliche Erfahrungsberichte als Quellen und über Comics als Format des kritischen Journalismus.
Wie sich Unterdrückte durch hässliche Gewalt auflehnen, dafür gebe es zahlreiche historische Beispiele, sogar die Gräueltaten bestimmter italienischer Partisanengruppen. Doch sei diese Realität heute aus dem Bewusstsein geschwunden, nicht zuletzt durch eine Erinnerungspolitik, „die sich fast ausschließlich auf das Leiden der Opfer konzentrierte und darauf abzielte, die Sache der Unterdrückten als Triumph der Unschuld darzustellen“.
Mit der Zerstörung Gazas ist für Traverso die erzieherische Kraft des Holocaust-Gedenkens in eine umfassende Krise geraten: „Wie kann die Erinnerung an die Shoah überhaupt noch verteidigt werden, nachdem mit ihr ein Genozid legitimiert wurde?“ Das Gedenken laufe Gefahr, gerade im globalen Süden nur noch als Waffe westlicher Dominanz zu gelten.
Peter Beinart hält an seiner Utopie der Gleichberechtigung fest
Mit „Being Jewish after the Destruction of Gaza“ hat Peter Beinart das Buch für den Streit über Israel am jüdischen Familientisch geschrieben, wie er vorzugsweise in den USA ausgetragen wird, oft zwischen den Generationen.

Der 54-jährige Kolumnist, Journalismus-Professor und Redakteur bei „Jewish Currents”, einer alteingesessenen Vierteljahresschrift der jüdischen Linken, hat ein leidenschaftliches Plädoyer für eine neue jüdische Erzählung verfasst – eine Erzählung, in der Selbstschutz nicht mehr bedeute, andere zu unterwerfen, „die Ohren vor ihren Schmerzensschreien zu verschließen“ und sich selbst ein Unschuldszeugnis auszustellen.
„Wir müssen eine neue Geschichte erzählen, um auf den Horror zu antworten, den ein jüdischer Staat begangen hat, mit der Unterstützung vieler Juden auf der Welt“, schreibt Beinart.
Er häuft dafür nicht nur Argument auf Argument für eine nichtzionistische Betrachtung des Nahostkonflikts, sondern wirbt auch mit religiösen Betrachtungen, wendet sich an jene, die ihm in der Synagoge nicht mehr die Hand geben wollen.
Als er vor fünf Jahren in der New York Times schrieb „Ich glaube nicht mehr an einen jüdischen Staat“, war das ein Skandal; Beinart galt als der bekannteste Kopf des liberalen Zionismus.

„Nichts rechtfertigt einen Genozid“
Der Geiger Michael Barenboim, Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra, fordert ein Waffenembargo gegen Israel und wirft deutschen Medien Versagen vor. Gegenüber Qantara erklärt er, wie er den Balanceakt zwischen Kunst und Aktivismus angeht.
So hat auch dieses Buch eine autobiografische Note. Beinarts Eltern stammen aus Südafrika, bei den Großeltern versammeln sich litauische, russische, ägyptische Herkünfte; aus so viel Diaspora wuchs Stolz auf Israel. Bei Peter Beinart begann er zu schwinden, nachdem ihm Palästinenser ihr Leben zeigten. Im Buch berichtet er mit Dankbarkeit von diesen Freundschaften.
In den USA erhält Beinart Morddrohungen von rechtsradikalen Juden; dennoch hält er an einer Utopie der Gleichberechtigung fest: So wie in Südafrika die Apartheid überwunden wurde, könne auch Israel-Palästina ein humanistisches Fanal für die Menschheit setzen: „Wenn wir uns selbst von Suprematie befreien, können wir als Partner der Palästinenser helfen, die Welt zu befreien.“ Gaza, so Beinarts Hoffnung, möge zum Wendepunkt jüdischer Geschichte werden.
Didier Fassin geht es um die Ungleichheit von Leben
Der Franzose Didier Fassin, Anthropologe und Arzt, war in seiner Forschung wie in der Leitung von Médecins Sans Frontières oft mit der Ungleichwertigkeit von Leben befasst. Diese Kategorie steht nun im Zentrum seiner Schrift „Une étrange défaite. Sur le consentement à l'écrasement de Gaza“ (englischer Titel: „Moral Abdication. How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza“).

Die Zerstörung Gazas geduldet oder unterstützt zu haben, werde als „moralisches Abdanken“, als ethisches Versagen eine unauslöschliche Spur im Gewissen der beteiligten Gesellschaften hinterlassen.
„Was das Gedächtnis zweifellos am längsten heimsuchen wird, ist die Ungleichheit von Leben, die auf der Bühne von Gaza zur Schau gestellt wurde.“
Pankaj Mishra spricht im selben Zusammenhang von einer „inneren Wunde“, von der Last der Trauer über eine Schuld aus Verstrickung. Didier Fassin geht einen Schritt weiter: Wer im Westen zur Zerstörung Gazas beigetragen habe, könne sich nicht mehr glaubwürdig auf Menschenrechte berufen. Als globales Zeichen ist dies ein vernichtendes Urteil.
Pankaj Mishra: Die Welt nach Gaza / The World after Gaza
Englisch und Deutsch. Übersetzt ins Deutsche von Laura Su Bischoff
Penguin Press / S. Fischer Verlage
Februar 2025
Enzo Traverso: Gaza im Auge der Geschichte / Gaza devant l’histoire
Französisch und Deutsch. Übersetzt ins Deutsche von André Hansen
Lux Éditeur
Oktober/November 2024
Peter Beinart: Being Jewish After the Destruction of Gaza
Atlantic Books
Januar 2025
Didier Fassin: Une étrange défaite. Sur le consentement à l'écrasement de Gaza / Moral Abdication: How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza
Übersetzt ins Englische von Gregory Elliott
Januar 2025
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