Harmonien vom Balkan bis über die Levante
Die Metapher von Musik als universeller Sprache hört man beim Morgenland Festival nicht so gern. "Schmarrn", sagt Michael Dreyer. "Man muss sich genauso erst mal verständigen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln." Als Gründer und künstlerischer Leiter des Festivals hat Michael Dreyer schon viele musikalische Positionen und Menschen aufeinandertreffen sehen. Mehr: zusammengeführt. Bereits seit zwölf Jahren lädt er Musiker in die norddeutsche Kleinstadt Osnabrück ein.
Die Lust am Experimentieren und Improvisieren, die Lust am Menschen entlädt sich in immer neuen Formaten. Ein Meisterkurs ist es dieses Jahr, eine Kooperation des Festivals und des Instituts für Musik der ansässigen Hochschule. Die Dozenten sind alte Bekannte vom Institut und Musiker von anderswo, die seit vielen Jahren nach Osnabrück kommen. Auch hier ist Sprache unzulänglich, braucht Erläuterungen. Wie verortet man Kinan Azmeh, Weltklasseklarinettist aus Syrien, der mittlerweile in den USA lebt, ebenso wie Sängerin Dima Orsho? Die beiden kennen sich seit ihrer Kindheit in Damaskus, nun treffen sie sich regelmäßig in Osnabrück – nicht umsonst fällt das Wort "Familie" spätestens im zweiten Satz, wenn Musiker und Team das Festival beschreiben.
"Wie im richtigen Leben"
Im Dachgeschoss des sogenannten Gartenhauses der Hochschule ist es stickig, der deutsche Sommer kam spät dieses Jahr, aber die Fenster bleiben zu, wegen der Nachbarn. Es ist der zweite Tag, Rony Barrak stellt seiner Gruppe ein neues Stück vor. Er ist seit zehn Jahren Teil der Festivalfamilie und einer der wenigen Musiker aus der Region, der noch in seinem Heimatland Libanon lebt. Hochschuldozent Frederik Köster, der auch in der Morgenland All Star Band Trompete spielt, bleibt etwas im Hintergrund, als Rony die Darbuka für eine Rhythmusübung beiseite legt. Körpereinsatz ist gefragt, reihum soll jeder ein Muster vorgeben, geklatscht, gestampft, geschnippt. Einigermaßen eingegroovt und durstig nach dem Neuen, das die Dozenten anbieten, versuchen viele sich an Sequenzen, die man in Deutschland selten hört.
Orientalische Musik dürfe man schon sagen, die Bezeichnung Weltmusik finden die Dozenten dagegen pejorativ. "Was wir selbst machen ist sowieso Fusion", sagt Kinan beim Mittagessen bevor er sich darüber freut, dass alles so gut läuft. Christof Hillmann, der Schlagzeug unterrichtet und ein Faible für persische Musik hat, beschreibt den Kurs als "Vitaminspritze" für die Teilnehmer, und den Moment der Euphorie, wenn es "knackt", das Ohr, die Finger, die fremde Musik verstehen. Pianist Florian Weber erklärt, dass die Teilnehmer sich zwar "wie im richtigen Leben" in wenigen Tagen teilweise schwierige Stücke für das Abschlusskonzert aneignen müssen, vor allem aber so viel neue Musik wie möglich kennenlernen sollen. Rony macht ein Gruppenselfie. Familie eben.
Vierteltöne und krumme Taktarten
Nicht für alle ist diese Art Musik völlig neu, die sich vor allem durch unregelmäßige Metren und Vierteltöne unterscheidet von der westlich-europäischen – auch das ein sprachlicher Klumpfuß und so einschränkend wie alle Versuche kultureller Grenzziehungen. Vierteltöne am modernen Klavier sind allerdings ein Ding der Unmöglichkeit; und Florians Schüler Aaron Seitz beneidet die Sänger und Bläser, die nicht wie er durch Doppelanschläge "schummeln" müssen, obwohl ihm die Harmonien, die sich vom Balkan bis über die Levante hinziehen, vertraut sind.
"Es ist schon eine eigene Sprache", sagt Jazztrompeter Gregor Lener, der eigentlich sein Studium abgeschlossen und sich für den Meisterkurs angemeldet hat, "weil es genial ist, was die hier machen". Ein früherer Bandkollege spielte Saz und gerade im neuen Jazz sind krumme Taktarten und ungewohnte Tonfolgen gebräuchlich. "Man lernt ganz viel übers Hören", fährt Gregor fort, "aber man kann die Musik erst richtig spielen, wenn man sie fühlt".
Schwierige Stellen müsse man üben, wie immer. "Die Kenntnisse sind da und wir alle haben Lust", bestätigt Martin Fischer, ein Schlagzeuger im vierten Jahr. Carolin Schnabel, die Jazzgesang studiert, verweist auf alte Kirchentonarten. Erst seit Bach ist es in der deutschen Musik mit den Vierteltönen vorbei. "Man ist irgendwann festgefahren, es ist toll, das aufzubrechen. Wir werden alle Songs schreiben, die davon beeinflusst sind."
Shabnam Parvaresh lächelt ein bisschen, wenn sie den anderen Teilnehmern zuhört. In Teheran spielte sie Klarinette im Symphonieorchester und hatte als Künstlerin mit Zensur zu kämpfen. Der Kontakt mit Michael Dreyer führte sie schließlich nach Osnabrück ins "Morgenland Chamber Orchestra". Vor drei Jahren kam sie nach Deutschland um Jazz zu studieren und kennt die Herausforderungen einer neuen musikalischen Sprache – von der anderen Seite. "Für mich war das damals alles sehr neu. Hier im Workshop fühle ich mich musikalisch zuhause, während es für die anderen schwierig ist."
Improvisation als Übung in Empathie
Für Jaafar Daoud ist es ebenfalls kein musikalisches Neuland. Der junge Syrer ist seit gut eineinhalb Jahren in Deutschland und "überall da, wo Musik ist". Er hat seine Ney dabei, eine traditionelle Holzflöte. Im Workshop improvisiert er viel, eine Kunst, die in anderen Musikkulturen weitaus gebräuchlicher ist als in der westlich-europäischen.
Junge Musiker wie Jaafar anzusprechen war ein Anliegen von Dekan Sascha Wienhausen, der den Meisterkurs ersonnen hat. Das Festival will explizit nicht politisch sein, die Frage der Verortung aber ist allgegenwärtig. Etliche der Morgenland-Musiker haben mittlerweile Flüchtlings- oder Asylstatus, auch das ein Grund, das diesjährige Festival dem Thema Heimat zu widmen.
"Heimat hat mit Bewahren zu tun, aber auch mit Grenzen erweitern" sagt Sascha Wienhausen, für den der Workshop ein Beitrag zu einem "Nährboden der Toleranz" ist: "Es ist großartig, was Michael Dreyer auf die Beine gestellt hat. Das geht gar nicht, dass wir da nicht partizipieren". Vom Ökonomisierungszwang in Hochschulen hält er nichts, Wertigkeit würde in der Musik ganz anders entstehen. "Deutschland ist ein Einwanderungsland, da muss man versuchen, allen eine Sprache zu geben. Das funktioniert hervorragend über Musikprojekte, aber um informell über Musik zu kommunizieren, bedarf es besonderer Fähigkeiten, die man erlernt haben muss. Musik ist nicht mal eben so gemacht."
Eine Herausforderung? "Auf jeden Fall", bestätigt Tabea Mangelsdorf. Die Teilnehmer müssen Hörgewohnheiten überwinden und kulturelle wie musikalische Übersetzung leisten. "Diese Musik ist Teil einer Hochkultur, davon können wir lernen – gerade jetzt, wo so viele Menschen aus der arabischen Welt zu uns kommen", sagt die Gesangsstudentin. In Osnabrück gäbe es mitunter dank des Festivals eine aufgeklärte Kulturschicht, aber auch zunehmend mehr Nazis. "Die Pole werden stärker, also müssen wir auch stärker werden." Und manchmal bedeutet Heimat eben, dass man selbst eine neue Sprache lernt.
Sara-Duana Meyer
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